Mit dieser Geschichte wünsche ich euch ein schönes Wochenende.
Viel Spaß beim Lesen!
Tobias
reißt aus
Die
Schulglocke ertönte
und die Kinder stürmten
lachend und lärmend aus dem Schulhaus.
Sechs
Wochen Ferien lagen nun vor ihnen und nicht mal die Zeugnisse in
ihren Mappen konnten ihnen die Freude verderben.
Tobias
ging mit gesenktem Kopf und traurigem Gesicht zwischen seinen
Kameraden, die ihn in Ruhe ließen.
Tobias
war einst ein fröhlicher übermütiger Junge, doch vor zehn Monaten
war sein Vater gestorben und seitdem hatte er sich sehr verändert.
Seine
Freunde wussten nicht so recht wie sie mit ihm umgehen sollten und
hatten auch eine gewisse Scheu vor Tobias.
Der
Junge hatte nun das große Miethaus erreicht und ging die
abgetretenen Holzstufen hinauf.
Abgestandene
Luft schlug ihm entgegen und schnell öffnete er die Fenster.
In
der Küche nahm er eine Dose Linsensuppe
schüttete sie in einen Topf
und stellte die Herdplatte an.
Dann
deckte er den Tisch, schnitt Brot, stellt die Flamme kleiner und
atmetet tief durch, bevor er ins Wohnzimmer ging.
Wie
immer saß seine Mutter im Sessel, ein Bild des Vaters auf dem Schoß
und starrte vor sich hin.
Tobias
berührte sachte ihre Schulter und wie aus einem Traum erwachend sah
die Mutter ihn an.
Sie
versuchte ein Lächeln, doch es misslang.
„Komm
zum Essen, Mama.“
Schwerfällig
wie eine alte Frau erhob sich die vierzigjährige und folgte ihrem
Sohn stumm in die Küche.
Schweigend
löffelten sie ihre Suppe, dann erhob sich Frau Königsberger und
murmelte: „ Ich gehe zum Friedhof.“
Der
Zehnjährige nickte nur.
Nachdem
er aufgeräumt hatte warf er sich auf sein Bett, verschränkte die
Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.
Er
fühlte sich erbärmlich !
Wie
schön war es gewesen als der Vater noch lebte, die Mutter hatte
gesungen und gelacht und wenn der Vater sie neckte wurde sie immer
rot wie ein junges Mädchen.
Und
dann war von einem Tag auf den anderen alles vorbei.
Auf
dem Weg nach Hause wurde das Auto seines Vaters von einem betrunkenem
Autofahrer gerammt, überschlug sich und sein geliebter Vater war
tot.
Seitdem
war die Sonne aus seinem Leben verschwunden und er fühlte sich, als
würde er in einer Schattenwelt wohnen.
Besonders,
da seine Mutter sich immer mehr in ihre
Trauer
vergrub und oft vergaß, dass sie noch einen Sohn hatte.
Dabei
hätte er sie gerade jetzt so dringend gebraucht, denn er wusste
nicht wohin mit seinem ganzen Kummer und Schmerz.
Zu
gerne hätte er sich in ihre Arme geflüchtet und geweint, doch seine
Mutter hatte eine unsichtbare Mauer um sich gebaut und ihn
ausgeschlossen.
So
war er immer stiller geworden und hatte all sein Leid tief im Inneren
verschlossen.
Mit
Grauen dachte er an die vor ihm liegenden sechs Wochen. Nein das
hielt er nicht aus, er würde verrückt werden. Er musste weg.
Schnell
holte er sein Sparschwein und zerschlug es. Die 60 Euro, die darin
waren würden genügen, bis er bei seiner Tante war, die in der Nähe
des Chiemsees einen Bauernhof besaß.
Ja
er wollte zu Tante Jutta, die hatte ihnen sowieso angeboten einige
Zeit zu ihnen zu kommen, doch
die
Mutter wollte nicht weg vom Grab ihres Mannes.
Tobias
holte den Schlafsack vom Schrank und packte seinen Rucksack, dann
verließ er die Wohnung.
Kurz
überlegte er, ob er seiner Mutter ein paar Zeilen schreiben sollte,
doch dann meldete sich sein Trotz. Nein! Sie würde doch sowieso
nicht merken, ob er da war oder nicht.
Er
klemmte den Schlafsack auf den
Gepäckständer seine Rads, schulterte den Rucksack und fuhr los.
Bald
hatte er die Stadt verlassen, ein leichter Wind fuhr durch sein Haar
und die Sonne umschmeichelte sein Gesicht.
Ganz
leicht wurde ihm auf einmal ums Herz.
Es
war schon Spätnachmittag, als er an einem Bach
hielt,
um die unterwegs gekauften belegten Brötchen zu verspeisen.
Dann
legte er sich bäuchlings ans Ufer und schöpfte mit der hohlen Hand
Wasser aus dem klaren Bach.
Anschließend
füllte er noch die leere Saftflasche und stieg wieder aufs Rad. Es
war Zeit sich nach einem Schlafplatz umzusehen.
Er
musste ganz schön in die Pedale treten um die Steigung zu schaffen,
auch war er schon sehr müde.
Plötzlich
gab es ein komisches Geräusch und das Hinterrad fing an zu hoppeln.
Schnell
sprang er ab und besah sich den Schaden. Ein langer Nagel steckte im
Hinterrad. Er hatte einen Platten. Tobias schob die letzten paar
Meter nach oben und blieb dann stehen.
Im
Tal unten sah er die Spitze eines Kirchturms und weiter rechts
flatterte eine Fahne auf einem großen Zelt lustig im Wind.
Ein
Zirkus! Da wollte er hin und vielleicht erlaubten sie ihm auch
dort zu übernachten. Und in dem Dorf fand er sicher jemand, der ihm
das Fahrrad wieder richtetet.
Bald
erreichte er die große Wiese und sah staunend das große Zelt und
die bunten Wohnwagen.
Ein
Clown jonglierte mit Bällen. Eine Dame ließ einen Hund in rosa
Kleidchen mit vielen Rüschen auf den Hinterbeinen tanzen.
Eine
Frau, die eine große Schlange um den Hals trug, tänzelte über den
Platz wobei sie den züngelnden Kopf des Reptils vor ihr Gesicht
hielt.
„Du
hast ja einen schönen Platten!“ hörte er eine Stimme neben sich
und erblickte ein Mädchen ungefähr in seinem Alter, das einen
Schimpansen an der Hand führte.
Tobias
grinste. „Ja, gerade passiert, ich heiße Tobias und wollte fragen,
ob ich bei euch übernachten dürfte. Ich brauche nicht viel Platz
für meinen Schlafsack.“
„ Aber
sicher, komm wir fragen den Direktor! Ich bin übrigens Lisa und das
ist Gina. Gina sag schön guten Tag zu Tobias.“
Der
Affe fletschte die Zähne, schnatterte und reichte dem Jungen seine
Pfote, die dieser mit einem freundlichen: „Guten Tag Gina;“
drückte.
Dann
folgte Tobias dem Mädchen und dem Schimpansen zu dem älteren Mann,
der gerade mit der Schlangentänzerin sprach.
Der
Direktor betrachtete forschend den Jungen, dann lächelte er und
nickte. Außerdem lud er ihn zur Vorstellung ein, bevor er weiter
ging.
Tobias
sah etwas scheu auf die große Schlange, die sich auf der Schulter
der jungen Frau ringelte.
Diese
meinte lächelnd.
„Hast
du Angst vor Schlangen?“
Der
Junge zuckte verlegen die Schultern.
„Meine
Indira ist ganz harmlos, willst du sie mal streicheln. Keine Angst,
sie ist nicht giftig !“
Während
die Schlangentänzerin den Kopf der züngelnden Schlange fest hielt,
fuhr Tobias vorsichtig mit der Hand über den Rücken des Tieres.
Die
Haut fühlte sich trocken und etwas rau an,
trotzdem
atmete er auf, als die junge Frau sich verabschiedete und weiter
ging.
Lisa
führte ihn nun in ein kleines Zelt, in dem Werkzeuge und allerlei
Gerümpel war.
Ein
alter Mann feilte gerade an einer Eisenstange und drehte sich um, als
sie eintraten.
Freundlich
begrüßte er Lisa und diese stellte ihm Tobias vor. Beppo
betrachtete sich den Schaden am Rad und meinte:
„Wird
ne Weile dauern, heute kannst du nicht weiter fahren.“
„Das
geht in Ordnung,“ erklärte das Mädchen, „der Direktor hat
erlaubt, dass Tobias bei uns schlafen darf.“
„Dann
wüsste ich ein Plätzchen für dich.“
Der
alte Mann deutete in die Ecke, in der neben dem Futter für die Tiere
auch ein großer Heuhaufen war und gemeinsam brachten sie Tobias
Sachen dorthin.
Nachdem
sie sich von Beppo verabschiedet hatten, zeigte Lisa dem Jungen noch
die Tiere, doch dann musste sie zurück ins Zelt, weil bald die
Vorstellung begann.
Da
Lisa bereits bei der Einzugsparade mitmachen musste, wollte
sie sich vorher noch umziehen.
Auf
dem Rückweg kamen sie an einem Wohnwagen vorbei auf dessen Stufen
eine alte Frau saß und eine Pfeife rauchte.
„Das
ist die Großmutter von unserem Direktor, sie kann in die Zukunft
sehen.“
„Lisa,
was wisperst du mit dem Jungen, du machst ihm doch nur Angst. Komm
her mein Junge setz' dich zu mir und du Lisa lauf los, damit du nicht
zu
spät
kommst.“
Scheu
setzte Tobias sich neben die alte Frau und betrachtete das braune
lederartige Gesicht, das voller Runzeln war.
„Können
sie wirklich in die Zukunft sehen?“
Die
alte Frau schmunzelte und einige Zahnlücken wurden sichtbar.
„Wer
weiß? Außerdem niemand sagt 'Sie' zu mir, ich bin Miranda und dass
du Tobias heißt habe ich gehört.“
Sie
kicherte und auch der Junge lächelte. Die alte Frau gefiel ihm und
er vertraute ihr.
„ Ich
kann gut in Gesichtern lesen und in die Herzen der Menschen sehen.
Dein Herz ist voller Kummer und Schatten.“
„Mein
Vater ist tödlich verunglückt vor einigen Monaten,“ sagte Tobias
leise.
Die
alte Frau nickte ernst.
„Ich
musste schon viele der Meinen begraben, das Zirkusleben steckt voller
Gefahren. Dein Vater musste viel zu früh gehen, du hättest ihn noch
so notwendig gebraucht.“
Tobias
nickte und eine Träne rollte über seine Wange.
„Und
meine Mutter hat sich so in die Trauer vergraben, dass sie vergessen
hat, dass es mich gibt!“
Seine
Stimme klang bitter.
Miranda
schwieg eine Weile, dann sagte sie leise.
„Ein
indianisches Sprichwort sagt:
'Lass
den Vogel der Trauer ruhig über deinen Kopf
kreisen,
aber erlaube ihm nicht in deinen Haaren zu
nisten.'
Mein
Vater war ein Cherokee-Indianer und in diesem Spruch steckt viel
Weisheit.
Man
darf die Trauer nicht unterdrücken und muss sie zulassen, nur so
kann man sie einst überwinden.
Aber
wenn man sich zu sehr in der Trauer verliert, dann findet man den Weg
nicht mehr zurück ins Leben. Du darfst deiner Mutter nicht böse
sein, der plötzliche und viel zu frühe Tod deines Vaters war für
sie ein Schock.“
„Aber
wie kann ich ihr helfen?“
„Du
hast ihr schon geholfen, indem du ausgerissen bist.“
Schweigend
blicken die zwei so ungleichen Menschen hinauf ins Firmament, das
sich inzwischen dunkelblau verfärbt hat und ab und zu blinkt
bereits ein Stern auf.
„Gibt
es ein Leben nach dem Tod?“
„Wer
weiß? Schließ' deine Augen und blicke in dein Herz.“
„Was
spürst du?“
„Die
Nähe meines Vaters.“
„Mein
Volk glaubt, dass nur dann eine Seele stirbt, wenn es niemanden gibt,
der sich an sie erinnert. Solange du dich an deinen Vater erinnerst,
wird er immer bei dir sein und du bist nie allein.
Und
nun geh, die Vorstellung beginnt gleich und denke daran, dein Vater
würde sich freuen, wenn du wieder lernst zu lachen und das Leben zu
genießen.
Und
mache dir keine Sorgen um deine Mutter. Es wird alles gut werden.“
Tobias
lief zum Zirkuszelt, wo ihn Lisa schon erwartete und ihn zu einer
Kiste hinter der Bühne führte, von wo er die Vorstellung verfolgen
konnte.
Es
waren schöne Darbietungen und bei den Späßen Clowns lachte er
hellauf.
Erstaunt
lauschte er den eigenen Tönen, wie lange hatte er schon nicht mehr
gelacht.
Und
gleichzeitig liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Sie spülten
die letzten Schatten aus seinem Herzen und das Lachen erfüllte es
mit Freude.
Er
fühlte sich so glücklich und frei wie schon lange nicht mehr.
Am
nächsten Morgen nach einem ausgiebigem Frühstück radelte er
weiter, begleitet von den guten Wünschen der Zirkusleute.
Und
am Spätnachmittag fuhr er in den Hof seiner Tante Jutta.
Nachdem
er ihr alles erzählt und sie ihn in der Küche bei der alten Bertha
abgeliefert hatte, die den Jungen sofort begann so richtig mit
Leckereien zu verwöhnen, führte Jutta ein langes Gespräch mit
ihrer Schwester.
Elfriede
Königsberger legt den Hörer auf. Sie schämte sich, denn sie hatte
nicht einmal bemerkt, dass Tobias nicht da war.
Wie
erwachend schaute sie sich um und erkannte wie ihre einstmals so
saubere Wohnung herunter gekommen war.
In
den achtlos hingeworfenen Papieren wühlt sie, bis
sie
den Zettel mit der Telefonnummer der Trauerhilfe fand, die Pfarrer
Braun ihr bei der Beerdigung in die Hand gedrückt hatte.
Nachdem
sie einen Termin für Morgen Vormittag vereinbart hatte, krempelte
sie die Ärmel hoch, um mit Wasser und Seife den Schmutz in ihrer
Wohnung zu beseitigen.
Spät
in der Nacht fiel sie todmüde ins Bett und schlief zum ersten Mal
tief und traumlos.
Am
nächsten Morgen, nachdem sie ein langes Gespräch mit der Dame von
der Trauerhilfe geführt und die Adresse eines Trauercafes in der
Tasche hatte, rief sie ihre Schwester an.
Lange
redeten die beiden miteinander, dann bat Elfriede ihre Schwester ihr
doch Tobias zu holen.
Tobias
legte den Hörer auf und sah seine Tante strahlend an.
„Mama
hat sich professionelle Hilfe geholt und sie will sich eine Arbeit
suchen, obwohl sie es durch Papas Lebensversicherung eigentlich nicht
nötig hat.
Aber
sie meint, die Arbeit würde sie vom Grübeln abhalten und sie hat
versprochen wenn ich nach Hause komme wird alles anders werden.
Außerdem
kommt sie in drei Wochen zu dir, bleibt bis zum Ende der Ferien und
wir fahren gemeinsam zurück.“
Jutta
die das alles schon wusste nickte.
„Und
ich werde euch nach Hause bringen, dein Rad bekommen wir locker in
meinen Jeep.“
Sie
umarmte ihren Neffen, der sich nicht schämte zu weinen.
Doch
diesmal waren es Freudentränen.
©
Lore Platz