Freitag, 25. Januar 2019

Der alte Puppenspieler


 
eigenes Foto

Der alte Puppenspieler



Langsam senkt sich die Dämmerung über den Marktplatz und es sind nur noch wenige Menschen unterwegs.
Eine leichte Brise wirbelt den Staub auf und der alte Mann senkt den Kopf und schlägt den Kragen seines abgetragenen Mantels hoch.
Traurig bückt er sich zu dem verbeulten Teller und schüttet die paar Kupferstücke in die hohle Hand.
Niemand hat mehr Interesse an seinem Puppenspiel, nicht mal die Kinder. Sie laufen vorbei und spotten noch über seine langweiligen Puppen.
Müde hebt er den schwarzen, abgeschabten Koffer, indem er liebevoll seine 'Kinder', wie er seine Puppen nennt,verstaut hat, auf und schlurft mit gesenktem Kopf die Straße hinab.
Er biegt in den kleinen Weg ein, der zum Häuschen seiner Schwester führt, die ihm ein kleines Kämmerchen zur Verfügung gestellt hat, als er sich nicht mehr als Puppenspieler selbst ernähren konnte.
Seinem Schwager war das gar nicht Recht und er missgönnte ihm jeden Bissen.
Der alte Mann öffnet die Holztür, die leise knarrt, als wollte sie protestieren und tritt in den gefliesten Flur.
Sein Schwager Paul tritt ihm entgegen.
Na, hast du heute gut verdient mit deinem Firlefanz,“ spottet er.
Martin senkt den Kopf und will sich an ihm vorbei drängen, doch dieser hält ihn am Arm fest.
Ich habe es satt, dich unnützen Träumer noch weiter mit durch zu füttern, du wirst in Zukunft auf dem Hof mitarbeiten.“
Hilde tritt aus der Küche und stemmt die Arme in die Hüften.
Lass meinen Bruder in Ruhe, das bisschen was er isst, können wir immer noch verkraften.“
Ins Narrenhaus gehört er, ein alter Mann, der noch mit Puppen spielt!“ brummt ihr Mann und verlässt das Haus.
Hilde aber legt liebevoll ihren Arm um Martins Schulter.
Komm mit in die Küche ich habe eine gute warme Suppe.“
Obwohl Hilde einige Jahre jünger war als ihr Bruder hatte sie ihn schon als Kind bemuttert und in Schutz genommen, wenn der Vater mal wieder grob wurde, weil Martin lieber Puppen schnitzte und träumte, als auf dem Hof zu arbeiten.
Sie hatte für seine Puppen die Kleider genäht und auch ihm das Nähen beigebracht.
Natürlich durfte der Vater das nicht mitbekommen, dann hätte er sich noch mehr erzürnt, wenn er seinen Sohn bei so einer weibischen Tätigkeit erwischt hätte.
Als die Eltern dann gestorben sind, war Hilde in die Stadt in Dienst gegangen und Martin hatte seine Puppen in den Rucksack gepackt und war über Land gezogen.
In Dörfern und Städten hatte er alte Märchen und auch ausgedachte Geschichten vorgeführt.
Reich wurde er nicht, aber für eine warme Mahlzeit hatte es immer gereicht.
Aber sein schönster Lohn war doch das Lachen und die Freude der Kinder.
So ging das viele Jahre, doch auf einmal wollten die Menschen keine Puppenspiele mehr sehen und auch die Kinder fanden andere Spiele interessanter.
Martin war inzwischen alt geworden und auch das Leben auf der Straße wurde immer beschwerlicher und so war er eines Tages vor der Tür seiner Schwester gestanden.
Hilde hatte ihn ohne viel zu Fragen aufgenommen.
Martin löffelt schweigend seine Suppe und auch den
Milchkaffee und das dick mit Butter bestrichene Brot lässt er sich schmecken.

 
(c) meine Tochter

In seiner Kammer holt er seine Puppen aus dem Koffer und setzt sie nebeneinander auf das alte Sofa.
Er legt sich auf das Bett und verschränkt die Arme unter dem Kopf. Er kann nicht schlafen, denn zu viele Gedanken gehen ihm durch den Kopf.
Die Tür unten knarrt. Sein Schwager kommt wohl aus dem Wirtshaus zurück und wenn er getrunken hat, fühlt er sich besonders stark.
Schon hört man ihn brüllen, „ und dass du es genau weißt, der alte Nichtsnutz kommt aus dem Haus, ich dulde es nicht länger, dass du ihn durch fütterst.“
Martin hebt sich die Ohren zu, um die streitenden Stimmen nicht mehr zu hören.
Endlich werden sie leiser und dann verstummen sie ganz.
Der alte Mann setzt sich im Bett auf und sieht hinüber zu seinen Puppen und flüstert. „Kinder, Morgen werden wir diese Haus verlassen. Ich will nicht, dass meine Schwester ständig Ärger wegen mir bekommt.“
Es dauert lange, bis er eingeschlafen ist, doch dann fallen ihm die Augen zu und leise Schnarchtöne sind zu hören.
Auf dem Sofa wird es auf einmal lebendig. Die Puppen recken und strecken sich.
Habt ihr gehört,“ murmelt Friederich, der meistens die Rolle des Kammerdieners spielen muss, „ Morgen will er ganz allein mit uns weiter reisen.“
Kasperles Oma sieht sehr besorgt aus.
Ja, das wird er nicht überleben, bald kommt der Winter und außerdem will uns doch niemand mehr spielen sehen.
Er wird verhungern.“
Alle Puppen nicken betrübt, selbst der Räuber, die Hexe und das Krokodil, die immer die Rolle der Bösewichte übernehmen müssen, obwohl sie doch gar nicht so böse 
sind.
Hm,“ der Zauberer streicht über seinen langen grauen Bart, „Vielleicht sollten wir die Puppenfee um Hilfe bitten?“
Wer ist die Puppenfee, wo wohnt sie und warum kann sie Meister Martin helfen.“ so rufen die Puppen durcheinander.
Die Puppenfee wohnt in einem wunderschönen Land und ihre Helfer eilen durch die ganze Welt um allen traurigen Puppen, die verlassen oder durch Menschenhand zerstört wurden, zu sich zu holen und ihnen eine neue Heimat zu geben,“ erklärt der Zauberer.
Weißt du denn wo sie wohnt?“


(c) meine Tochter
Nicht so genau, aber vor der Stadt im Wald wohnt Eulalia, die Eule, sie ist sehr weise und kann uns weiter helfen.“
Wir können aber nicht alle gemeinsam losgehen, was wird Meister Martin denken. Er wird einen großen Schreck bekommen. Wenn nur einer von uns die Fee aufsucht, wird es ihm nicht auffallen,“ meint der König, der sehr klug ist.
Ich werde gehen,“ meldet sich das Kasperle und alle sind einverstanden.
Wenig später klettert der kleine Kerl durch das Fenster und lässt sich an der Regenrinne hinab.
Mit schnellen Schritten verlässt er den Hof und saust die Straße entlang, die aus der Stadt führt. Atemlos kommt er im Wald an.
Müde sinkt er ins Gras, lehnt sich an den Stamm eines Baumes und schließt erschöpft die Augen.
Warum rennst du denn so?“
Kasperle öffnet die Augen und sieht einen Igel vor sich, der ihn aus seinen dunklen Knopfaugen neugierig mustert.
Ich muss zu Eulalia.“
Das geht jetzt nicht, die ist vor einiger Zeit zurück gekommen und schläft jetzt sicher und wenn man sie aufweckt wird sie furchtbar böse.“
Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, ich brauche unbedingt ihre Hilfe.“
Na ich weiß nicht,“ meint der Igel zweifelnd.
Wenn er Eulalies Hilfe benötigt, dann wird sie ihm auch helfen.“
Ein Reh tritt zwischen den Büschen hervor.
Komm, setz' dich auf meinen Rücken, ich werde dich zu Eulalie bringen.“ wendet sie sich an das Kasperle.
Der Igel zuckt nur mit der Nase und verschwindet im Gebüsch.
Kasperle aber klettert auf den Rücken des hilfsbereiten Rehs und nun geht es über Stock und Stein durch den Wald.
Vor einer großen mächtigen Eiche bleibt das Reh stehen und deutet mit dem Kopf nach oben.
Siehst du die große runde Öffnung, dort wohnt Eulalie.“
Kasperle bedankt sich, richtet sich auf und greift nach dem nächsten Ast und schwingt sich flink den Baum hinauf.
Das Reh beobachtet ihn noch eine Weile bis er im Bau der Eule verschwunden ist, dann läuft es weiter.
Kasperle aber steht vor dem Bett der Eule, die mit leicht geöffnetem Mund leise schnarcht. Es tut ihm leid sie zu wecken, denn war sie doch als Nachttier die ganze Nacht unterwegs gewesen, aber dann denkt er an Meister Martin und auch an seine Freunde und rüttelt die Eule leicht an der Schulter.
Unwillig brummt diese und dreht sich auf die andere Seite.
Doch Kasperle lässt ihr keine Ruhe und ruft verzweifelt. „Bitte Frau Eulalie, bitte ich brauche eure Hilfe.“
Die Eule öffnet die Augen und blickt den Störenfried finster an.
Bitte, ich muss wissen wie ich zur Puppenfee komme. Es geht um Meister Martin und seine Puppen. Wir brauchen Hilfe.“
Eulalie setzt zu einer unwirschen Antwort an, doch dann sieht sie den flehenden Blick des kleinen Kerls und ihr gutes Herz siegt.
Wenn du nicht weißt, wo die Puppenfee wohnt, dann ist es dir noch nie schlecht gegangen.“
Nein!“ Kasperle lächelt, „ unser Vater Meister Martin hat uns geschaffen und all die Jahre geliebt und für uns gesorgt. Doch nun ist er alt und niemand will unser Spiel
mehr sehen und der Mann seiner Schwester ist böse und deshalb möchte Meister Martin heute wieder auf Wanderschaft gehen. Aber er ist zu alt für das Leben auf der Straße, deshalb will ich die Puppenfee um Hilfe bitten und man hat mir gesagt, sie wüssten wie ich sie finden kann.“
Eulalie richtet sich seufzend auf.
Das ist ganz einfach, du musst die Puppenfee rufen und wenn du wirklich in Not bist, wird sie dich finden. Aber nun lass mich schlafen.“
Die Holzpuppe bedankt sich und klettert flink den Baum hinab. Einen Moment bleibt sie stehen und überlegt, sollte es wirklich so einfach sein?
Nun er musste es versuchen.
Leise ruft er: „ Liebe Puppenfee, ich brauche deine Hilfe.“
Aufmerksam sieht er sich um, doch nirgends kann er jemanden entdecken. Mutlos mit gesenktem Kopf verlässt er den Wald.
Als er die große Lichtung erreicht, hört er plötzlich leises Lachen und neben ihm geht eine wunderschöne Frau mit rotbraunen wallenden Haaren. Das Kleid, das aus vielen Schleiern besteht ist fast so bunt wie sein Kasperlegewand.
Du hast mich gerufen?“
Kasperle starrt sie mit offenem Mund an. „Du bist die Puppenfee?“
Wieder erklingt das melodische Lachen und schmeichelt sich in sein Herz.


Ja, ich bin die Puppenfee und ich kenne deinen Kummer, denn schon viele Jahre beobachte ich deinen Meister Martin und seine Liebe zu meinen Geschöpfen. Längst habe ich beschlossen ihm helfen, also sorge dich nicht.“
Sie lächelt und Kasperle fühlt, wie all sein Kummer von ihm abfällt und er ist sicher, dass alles gut wird.
Aber nun lauf, bald wird Meister Martin aufstehen und dann solltest du wieder bei den anderen sein.“
Die Puppenfee verschwindet, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Nun aber saust das Kasperle los, kommt über die Regenrinne ungesehen ins Zimmer und ist gerade mit seinem Bericht fertig, als Meister Martin sich in seinem Bett bewegt.
Etwas schwerfällig erhebt er sich und schlurft ins angrenzende Bad.
Als er zurück kommt nimmt er den Koffer und legt ganz liebevoll eine Puppe nach der anderen hinein. Seine wenigen Habseligkeiten packt er in den alten Rucksack, den er im Schrank verstaut hat, dann wirft er noch einen Abschied nehmenden Blick ins Zimmer und geht langsam die Treppe hinunter.
Er hört Hilde in der Küche hantieren und deponiert Koffer und Rucksack im Flur, dann tritt er zu seiner Schwester.
Diese schenkt ihm ein liebevolles Lächeln.
Guten Morgen, Martin, setz' dich. Willst du wirklich wieder durch die Gegend streifen. Es ist Sturm und Regen angesagt, da wird wohl niemand stehen bleiben.“
Ach vielleicht kann ich ja in einer Gaststube spielen.“
Hilde nickt nur, sie weiß dass niemand seine Puppen mehr sehen will, aber sie schweigt. Sie weiß wie wichtig ihrem Bruder das Gefühl ist noch etwas unternehmen zu können.
Aber wenn nicht, dann komm bitte nach Hause, aber nun trink deinen Kaffee und iss deine Stulle.“
Nach dem Frühstück bleibt der alte Mann unschlüssig stehen, dann umarmt er seine Schwester.
Nanu, was ist denn heute mit dir los?“
Ach Hilde, ich will dir einfach nur mal danken, warst immer eine gute Schwester.“
Sie gibt ihm eine kleinen Klaps und brummt, um ihre Rührung zu verbergen.
Dafür sind Geschwister doch da, aber nun nimm deine Brotzeit und bring Freude mit deinen Puppen unter die Menschen.“
Martin verlässt die Küche, dreht sich noch einmal um und wirft Hilde einen langen Blick zu, unter dem es dieser ganz eigentümlich zu Mute wird.
Langsam mit müden Schritten wandert er aus dem Dorf und das Herz ist ihm schwer.
Nach endlos scheinender Zeit hat er die nächste Ortschaft erreicht und stellt sich auf den Marktplatz und holt seine 'Kinder' heraus.
Doch die Menschen hasten vorbei und niemand hat Interesse für seine schön geschnitzten Puppen.
Große Tropfen fallen vom Himmel und schnell verstaut er die Marionetten im Koffer. Er schlägt den Kragen hoch und eilt, um einen schützenden Platz vor dem Regen zu finden.
In einer alte Scheune lässt er sich aufatmend ins Heu sinken. Mit einem großen karierten Taschentuch fährt er sich über das nasse Gesicht. Ihm ist kalt und seine Zähne klappern, er fühlt sich so elend und müde und dann fallen ihm die Augen zu.
Ein überirdisch schönes Licht erhellt den alten Schuppen und vor ihm steht eine junge Frau in einem kunterbunten Kleid und lächelt ihn an.
Martin, komm mit!“
Und sie hält ihm ihre feingliedrige Hand entgegen und wie in einem Traum nimmt der Puppenspieler diese und folgt ihr. Sie erreichen einen herrlichen großen Garten voller Sonnenschein in dem viele Puppen fröhlich herum springen.
Wo bin ich hier?“
In meinem Puppenreich, in dem vergessene und verletzte Puppen eine neue Heimat finden, möchtest
du mir helfen diese armen Geschöpfe wieder glücklich und gesund zu machen?“
Ach bin doch so alt und müde.“
Die Puppenfee lächelt und schnippt mit den Fingern und Martin spürt wie seine Kraft zurück kehrt. Er dehnt und streckt sich.
Dann sind auf einmal alle seine 'Kinder' hier und umringen ihn.
Vater, du bist ja auf einmal wieder jung!“ staunen sie.
Und Martin bewegt seine durch Arthritis geschwächten Finger.
Sie sind beweglich und ohne Schmerzen, da stößt er einen Jodler aus und ruft fröhlich.
Ich will all den verletzten Geschöpfen helfen, hast du ein Schnitzmesser für mich?“
Die Puppenfee lächelt und führt ihn zu einem hübschen kleinen Häuschen.
Hier kannst du mit deinen Kindern wohnen und nebenan ist eine Werkstatt. Also willst du bei mir bleiben?“
Ja!“ ruft Martin mit strahlenden Augen.

Am nächsten Morgen fand man den alten Puppenspieler tot in der Scheune.


© Lore Platz