Mittwoch, 25. September 2019

Der kleine Zwerg






Der kleine Zwerg


Die achtjährige Lenerl stapft mit tief gesenktem Kopf die Auffahrt entlang und betritt das Haus. Sie nimmt den Schulranzen ab und stellt ihn auf den Boden neben den Schuhen, die aufgereiht wie die Soldaten nebeneinander stehen.
Die Mutter steckt den Kopf durch die Küchentür und begrüßt sie lächelnd, doch dann wird ihr Gesicht ernst.
Sie sieht der Kleinen an, dass etwas schief gelaufen ist, doch sie spricht sie nicht darauf an. Lenerl wird darüber selbst sprechen, wenn sie dazu bereit ist.
Im Gegensatz zu der zwölfjährigen Elsa, die mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, ist Lenerl ein empfindsames Kind, das man anders behandeln muss, als ihre Schwester.
Schweigsam löffelt sie dann auch ihre Suppe, während Elsa aufgeregt von ihrem Projekt erzählt, das sie für Schule basteln muss. Sie sollten aus den Materialien die der Herbst schenkt etwas bauen und sie will einen Märchenwald basteln.
Heute Vormittag sind sie mit ihrer Klasse zwei Stunden durch den Wald gestreift und haben Moos, Tannenzapfen, Blätter und kleine Äste gesammelt und Kastanien durften sie von dem großen Baum im Schulhof schütteln.
Lachend erzählt sie wie sie mit dem großen Max fast um die Kastanien gerauft hat.

Die Mutter hört nur mit einem Ohr zu, denn sie sieht wie dicke Tränen in Lenerls Suppe tropfen und gibt Elsa mit der Hand ein Zeichen.
Diese bemerkt nun auch das traurige Gesicht ihrer Schwester.
Was hast du denn?“
Die andern haben gesagt ich darf heute Nachmittag nicht mitkommen zum spielen, weil ich ein Feigling und Angsthase bin und deshalb ein Spaßverderber,“
schluchzt Lenerl, springt auf und verlässt laut weinend die Küche.
Elsa will ihr nachlaufen, doch die Mutter hält sie zurück.
Lass sie, du weißt Lenerl muss sich erst ausweinen bevor man wieder vernünftig mit ihr sprechen kann.“
Und so ist es auch. Nach einiger Zeit kommt die Kleine wieder in die Küche und schmiegt sich an die Mutter und nach einer Tasse heißen Kakao sieht alles schon wieder besser aus.
Und als Elsa ihrer Schwester vorschlägt, ihr beim Basteln zu helfen, da ist die Welt für Lenerl wieder in Ordnung.
Glücklich sitzt sie neben ihrer Schwester vor sich den Korb mit den heute gesammelten Materialien, die so herrlich nach Wald duften.
Unter den geschickten Händen von Elsa entstehen nun Zapfenbäume, aus Klorollen, Ästchen und Zapfenschuppen.
Die Klorollen darf Lenerl aus der großen Schatztruhe ihrer Schwester holen.




Die Kleine liebt diese Truhe, in der Elsa alles sammelt, was sie zum basteln brauchen konnte.
Auf einer großen Platte, die sie von der Schule bekommen hatte. klebt die Künstlerin nun die Bäume auf. Lenerl darf das duftende Moos verteilen, dann sieht sie staunend zu, wie ihre Schwester mit geschickten Händen einen großen Bär aus Kastanien bastelt. Eine Kastanie schnitzt sie zu einem Bärenkopf.



Hier, mal die gelb an.“
Elsa reicht Lenerl eine große Kastanie. Und voll konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen, bemalt diese die Kastanie.
Was wird das?“
Elsa lächelt und bemalt mit dünnen Pinselstrichen die gelbe Kastanie.
Ein Kürbis?“
Ja ich bastle einen Märchenwald und dies ist der Kürbis, aus der die Fee die Kutsche von Aschenputtel zaubert.“
Elsa deutet auf den Bär, der bereits zwischen den Bäumen steht.
Das ist der Prinz, den der böse Zwerg aus Schneeweißchen und Rosenrot, verzaubert hat.“
Nun wird der Märchenwald immer schöner.
Aus Hagebutten, Blättern und Gewürznelken, entstehen Aschenputtel, Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen.




Die gute Fee bekommt ein Kleid aus Federn, die Lenerl aus der Schatztruhe holen darf.
Diese Federn hatten einst Tante Luises Hut geschmückt, bevor die Katze ihn in die Pfoten
bekam.
Froschkönig und den Wolf schnitzt Elsa wieder aus Kastanien und bemalt sie.
Zufrieden betrachtet sie ihr Werk.
Nun fehlen nur noch die sieben Zwerge, suche mir bitte sieben gleich große Tannenzapfen.“
Lenerl kramt im Korb und holt sieben Zapfen heraus.




Ein ganz kleiner Zapfen liegt ganz versteckt zwischen dem Moos und es ist Lenerl als hört sie ihn flüstern. "Nimm mich auch mit."
Vorsichtig hebt sie ihn heraus und reicht ihn ihrer Schwester.
Der ist viel zu klein, wirf ihn wieder in den Korb!“
Darf ich ihn behalten?“
Ihre Schwester lächelt gutmütig und mit flinken Fingern bemalt sie den Kümmerling und reicht ihn ihrer Schwester.
Danke !“ Glücklich drückt Lenerl das Zwergerl an sich.
Und als sie abends ins Bett geht darf er auf ihrem Nachtisch stehen.





Lenerl erwacht mitten in einer blühenden Wiese. Bienen um schwirren summend die Blumen. Schmetterling gaukeln durch die Luft und ein Heuhüpfer landet direkt auf ihrer Nase.
Lenerl muss niesen und der kleine grüne Kerl landet im Gras und hüpft in großen Sprüngen davon.
Das Mädchen setzt sich auf und erblickt einen Zwerg, der sie vergnügt angrinst.
Wer bist du denn du?“


Kennst du mich nicht mehr, ich bin der kleine Zwerg, den deine Schwester dir gebastelt hat.“
Und wo sind wir hier?“
Der Zwerg deutet auf den Wald gegenüber.
Das ist der Märchenwald, wollen wir ihn uns ansehen?“
Lenerl nickt eifrig und sie laufen in den Wald. Stille umgibt sie, nur ab und zu raschelt es, wenn ein kleines Tier durch die Büsche läuft.
Plötzlich ist ein lautes Brummen zu hören und ein großer Bär taucht zwischen den Bäumen auf.
Das Mädchen hat keine Angst, weiß sie doch, dass es der verzauberte Prinz ist.
Der kleine Zwerg, der sich hinter ihr versteckt hat, zupft sie am Kleid und flüstert.
Komm lass uns weitergehen, der Bär hat nämlich Zwerge zum Fressen gern.“
Lachend winkt Lenerl dem Bär und folgt dem Kleinen.



Sie kommen an einen Teich, in dessen Mitte auf einem Seerosenblatt ein dicker Frosch mit einer goldenen Krone sitzt,
Schönes Fräulein,“ ruft er,“kommt näher, wollt ihr mich küssen!“
Lernel winkt ab.
Da müsst ihr schon warten, bis die Prinzessin mit
dem goldenen Ball kommt.“
Als sie weiter gehen kommen ihnen zwei Kinder entgegen.
Wir haben großen Hunger, habt ihr was zu Essen für uns.“
Bedauernd schüttelt Lenerl den Kopf.

Komm Gretel, ich habe gehört hier gibt es irgendwo ein Lebkuchenhaus.“ „Ja Hänsel.“
Hand in Hand laufen die Geschwister weiter.
Auch Lenerl und ihr kleiner Begleiter wandern weiter.
Es raschelt und seine spitze Nase voran schiebt sich ein großer grauer Wolf durch das Gebüsch.
Hallo, kleines Mädchen, wohin des Weges?“
Er kommt näher, die Lefzen heben sich und große spitze Zähne sind zu sehen.
Ängstlich weichen Lenerl und der kleine Zwerg zurück.
Der Wolf kommt immer näher.



Eine goldene Sonnenkugel erscheint zwischen den Bäumen und eine wunderschöne Fee steht zwischen dem Wolf und Lenerl.
Das ist nicht Rotkäppchen, lass sie in Ruhe!“ sagt sie streng
Weiß ich, aber ein zarter Leckerbissen.“
Soll ich den Jäger rufen?“
Spielverderberin!“
Der Wolf dreht sich um und verschwindet im Gebüsch.
Danke liebe Fee.“
Diese lächelt.
Nun lebt wohl, ich muss zu Aschenputtel und ihr beim Ankleiden für den Ball heute Nacht helfen.“
Sie verwandelt sich wieder in den Sonnenball und schwebt durch die Bäume davon.
Auch die Beiden wandern weiter.
Eine wunderschöne junge Frau mit pechschwarzem Haar steht vor einem Häuschen, die Hand über den
Augen, als würde sie nach jemanden Ausschau halten.
Lächelnd grüßt sie und fragt:
Seid ihr unterwegs sieben Zwergen begegnet?“
Nein, sind wir nicht,“ meint Lenerl.
Das sie doch nie pünktlich sein können, das Essen ist längst fertig.“
Kopfschüttelnd kehrt sie in das Haus zurück.
Lenerl und der kleine Zwerg sehen sich an und kichern.



Nebel steigt auf einmal auf, wird immer dichter und ein lauter durchdringender Wutschrei ertönt.
Ein wilder Wind fährt durch den Wald und wirbelt Sand und Blätter auf.
Lenerl und der Zwerg drängen sich erschrocken aneinander.
Kommt mit, die gute Fee schickt mich, ich soll euch in meine Höhle mitnehmen.“
Ein Eichkätzchen taucht aus der Nebelwand auf, dreht sich um läuft los, die beiden folgen ihm bis zu einem großen Baum.
Das putzige Tier springt auf den Stamm und saust nach oben. Der kleine Zwerg kann sich gerade noch an ihren buschigen Schwanz festklammern.
Lenerl aber bleibt unten stehen und sieht ängstlich nach oben.
Der kleine Zwerg dreht sich um und ruft.
Beeile dich, du musst den Baum heraufklettern.“
Ich habe Angst!“
Du darfst bloß nicht nach unten schauen, dann geht es schon!“


Zitternd vor Angst steht das Mädchen da.
Hinter sich hört sie es ächzen und stöhnen und als sie sich umblickt, sieht sie wie der Boden des Waldes sich erhebt und wellenartig auf sie zukommt.
Mit einem Quietschen springt sie hoch und fasst den ersten Ast und dann klettert sie flink wie ein Eichkätzchen den Stamm entlang. Der kleine Zwerg streckt ihr die Hand entgegen und hilft ihr in die Baumhöhle.
Nachdem sie sich beruhigt hat fragt sie erstaunt ihre Gastgeberin.
Was ist denn das?“
Das Eichkätzchen winkt lässig mit der Pfote.
Die dreizehnte Fee aus Dornröschen hat wieder mal einen ihrer Wutanfälle.“
Ganz schön heftig,“ brummt der kleine Zwerg.
Dauern dies Anfälle lange?“ will Lenerl wissen.
Nein!“
Schweigend sehen sie nun der aufgebrachten Natur zu.
Dann wird es still, der gewölbte Boden streckt sich, die abgerissen Blätter wirbeln zurück an die Bäume.
Es ist vorbei, wir können wieder hinunter.“
Das Eichkätzchen verlässt seinen Bau und rast den Stamm hinunter. Der kleine Zwerge hat Mühe sich an ihrem Schwanz festzuhalten.
Lenerl atmet tief durch und macht sich an den Abstieg.

Lenerl, aufstehen, du musst in die Schule.“
Verwirrt blickt das Mädchen in die lachenden Augen ihrer Mutter.





Nach dem Frühstück geht Lenerl zur Schule. Doch je näher sie dem Schulhaus kommt , umso langsamer wird sie.
In der ersten Stunde hatten sie Sport und die anderen würden sie wieder auslachen, weil sie sich
nicht auf die Kletterwand traute.
Ihre Brotzeittasche klappert und der kleine Zwerg sieht sie an.
Wer vor der bösen Fee schnell wie ein Wiesel auf einen großen Baum geklettert ist, der wird doch vor so einer kleinen Kletterwand keine Angst haben.“
Lenerl strahlt: „Du hast Recht!“

© Lore Platz