Mittwoch, 5. August 2020

Schatten der Vergangenheit




 
Schatten der Vergangenheit


In das kleine Dorf, das von Wäldern umgeben war, kam nur selten ein Fremder. Und die Bewohner lebten zufrieden wie auf einer Insel.

Eines Tages aber tauchte ein Mann im Dorf auf, der für Unruhe sorgte.

An einem Sommerabend war er plötzlich in die Gastwirtschaft vom Huber gekommen, hatte ein Bier bestellt und einfach nur dagesessen ohne ein weiteres Wort zu sagen. Er tat, als bermerkte er die neugierigen Blicke ringsum nicht.

"Was will der denn hier?", flüsterte der Huber dem Franz, der an der Theke saß, zu. Dieser zuckte die Schultern und warf einen verstohlenen Blick zu dem Fremden. Irgendwie kam er ihm bekannt vor; wenn er doch nur wüsste woher. Doch soviel er auch grübelte, es wollte ihm nicht einfallen.
Als der Fremde auf ihn zukam, tauchte für einen kurzen Moment ein Gesicht  in Franz Erinnerung auf, doch schon, war es wieder weg.


​"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen an die Theke setze?", fragte der Fremde und stellte sein Glas, das er vom Tisch mitgebracht hatte, ab.​
Franz deutete stumm auf den Platz neben sich. Sollte er ihn fragen, woher er kam oder einfach abwarten?
Er entschied sich erst mal abzuwarten. 
"Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt!", sagte der Fremde, "Ich bin der Herbert, Herbert Müller!" 
"Ich bin der Franz Brunner, hm, Herbert Müller, der Name sagt mir nichts," brummte Franz, "aber trotzdem werde ich das Gefühle nicht los, dass wir uns schon einmal begegnet sind?" 
Müller grinste, ein schiefes Grinsen, nicht unfreundlich, aber auch nicht verbindlich. 
"Wir sind uns schon einmal begegnet vor vielen Jahren, als wir Jungen waren, noch grün hinter den Ohren." 
Franz überlegte fieberhaft; er kannte niemanden mit dem Namen Herbert, auch nicht aus der Vergangenheit. 
Als hätte sein Gegenüber seine Gedanken erraten, grinste er und meinte dann leise: "Allerdings nannte ich mich damals anders."
"Wie? Du nanntest dich anders?", ohne es zu registrieren war Franz zum Du übergegangen. 
" Ja, aber das ist eine lange Geschichte." 
"Ich habe keine Lust auf Ratespiele! Sag wer du bist und gut isses!", sagte Franz mit lauter Stimme. 
Sein Gegenüber grinste: "Du bist also immer noch der gleiche Hitzkopf wie vor Jahren, als es dir hier zu eng wurde und du über die Berge gewandert bist, um zu erkunden wie es außerhalb deines Dorfes aussah. Und irgendwo auf deinem Weg in die Freiheit sind wir uns begegnet, nun dämmerts? "
Jegliche Farbe wich aus Franz' Gesicht, er schluckte die aufkommende Übelkeit hinunter. Dieser "Herbert" war niemand anderes als Paul, der Paul mit dem er das einzige kriminelle Ding des Lebens gebaut hatte. 
Was wollte er hier, bestimmt nichts Gutes, sonst wäre er nicht unter einem falschem Namen hier aufgetaucht. 
Ängstlich schaute sich Franz um, hoffentlich hatte niemand mitbekommen, dass er diesen Kerl kannte. 
Hastig stand er auf. "Ich muss jetzt nach Hause." 
"Jetzt? Wo es gerade so gemütlich ist?", fragte Paul; er lachte und Franz wurde es angst und bange. 
Er beugte sich zu dem Fremden und sagte leise. " Ich weiß nicht warum du hierher gekommen bist, was Gutes kann es nicht sein, sonst hättest du dich nicht unter falschen Namen hier eingeschlichen. Ich möchte damit nichts zu tun haben. Merk dir das! " 
Das Grinsen wich aus Pauls Gesicht, es veränderte sich zu einer bösartigen Fratze: "Du schuldest mir was, Freundchen!", sagte er leise, aber doch laut genug, dass der Huberwirt es verstehen konnte.
Neugierig hob er den Kopf und musterte die Beiden.
Er wollte keinen Ärger, nicht in seiner Kneipe - es sah allerdings so aus, als wollte der Franz dem Fremden jeden Moment an die Kehle springen. Doch er atmete tief durch, drehte sich abrupt um und verließ mit schnellen Schritten die Kneipe.
Der Fremde aber blieb seelenruhig an seinem Platz, bestellte ein weiteres Bier und beobachtete die anderen Besucher im Raum.
Sein Blick hat etwas lauerndes und der Huberwirt ließ ihn nicht aus den Augen und hoffte, er würde sich daneben benehmen, damit er einen Grund hätte ihn rauszuschmeißen.
Die anderen Gäste nahmen so gut wie keine Notiz von dem Mann an der Theke, sie waren mit sich selbst beschäftigt.
Franz aber stapfte, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf tief gesenkt zu seinem Haus, das ihn immer so gemütlich und friedlich aufnahm, doch heute war ihm, als würde er das Unglück mit hineinnehmen.
Sorgfältig verschloss er die Haustür und zog in allen Zimmern die Jalousien hinunter. Dann schenkte er sich einen doppelten Schnaps ein, den er hastig hinunterkippte. 
Stöhnend vergrub er den Kopf in den Händen. Holten ihn die alten Sünden nun heim.
Fast dreißig Jahre war es her, dass er Paul nicht mehr gesehen hatte, beinahe hatte er ihn vergessen, aber nur beinahe, denn das schlechte Gewissen hatte noch immer an ihm genagt.
Sechzehn war er gewesen, als er heimlich in der Nacht sein Elternhaus verließ. Viel zu eng war ihm das Leben im Dorf vorgekommen und er wollte wissen wie es hinter dem Berg aussah.
Er hatte sein Erspartes in seinen Rucksack gepackt, Wäsche zum Wechseln, ein paar Oberteile und Waschzeug, den Rest trug er am Körper. "Macht euch keine Sorgen, ich melde mich!", hatte er auf einen Zettel geschrieben und den gut sichtbar auf dem Küchentisch hinterlegt. 
Ohne einen bedauernden Blick zurück war er gegangen. Viel zu sehr hatte ihn das Abenteuer gelockt. 
Schon bald war ihm das Geld ausgegangen, das Leben in der Stadt war teuer und Franz hatte nicht gelernt, sein Geld einzuteilen. 
 Als er sich hungernd und frierend in einer Gasse verkrochen hatte wurde er plötzlich angesprochen.
"He Alter, Lust auf 'ne schnelle Mark?" Ein Junge, ungefähr in seinem eigenen Alter, sprach ihn an. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette, was Franz sehr imponierte. 
"Sicher, ich habe seit gestern nichts mehr gegessen," sagte er schnell. Der andere grinste. "Dann komm, wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht was locker machen können, damit du was zwischen die Zähne kriegst!"
Franz folgte ihm und sie betraten eine schummrige Kneipe, in der Paul mit lautem "Hallo" begrüßt wurde.
"Lass mich reden!", raunte Paul, "mich kennen die hier. Wirst sehen, gleich gibt's was zu essen. Aber halt die Schnauze, verstanden?" 
Franz nickte stumm und sah sich vorsichtig in dem von Rauch geschwängerten Raum um. Besonders wohl fühlte er sich nicht. 
"Mein Freund hier", Paul legte den Arm um Franz, "braucht einen Job!", sagte er. "Aber zuerst muss er was essen, Rita, mach ihm doch mal eine Gulaschsuppe, geht auf mich!" 
Bald stand eine dampfende Schüssel vor dem Jungen und gierig machte er sich darüber her. Die anderen beobachteten ihn grinsend.
Als Franz auch das letzte Restchen der Suppe mit einem Stück Brot aus der Schüssel gewischt hatte, stellte Paul ihm ein Bier hin.
"So, das ist für den Durst und dann kommen wir zu deinem Teil der Abmachung!" 
Er winkte zwei Jungen und zu viert setzten sie sich an einen etwas abseits stehenden Tisch. "Das sind Jo und Micha," stellt er seine Kumpel  vor und diese nickten grüßend.
"Wir könnten noch jemanden in unserem Gespann gebrauchen. Aber eines sage ich dir sofort: Es ist nicht ganz ungefährlich und wir erwarten äußerste Verschwiegenheit! Ist das klar?" Franz nickte ergeben. Immerhin schuldete er Paul was. Außerdem brauchte er einen Job, wie auch immer der aussehen würde. 
Paul sah sich noch einmal um und begann leise zu erkären was sie vorhatten. Franz wurde blass und Angst machte sich in ihm breit. Am liebsten wäre er aufgestanden und davon gelaufen. 
"Wir starten heute Nacht. Du ...", er zeigte auf Franz, "kommst solange mit zu mir, wir können dann gemeinsam zum Autobahnparkplatz fahren. Die beste Zeit ist nach Mitternacht, da schlafen die Lkw-Fahrer und wir können in aller Ruhe die Ladeflächen erreichen!" 
Franz nickte und verließ langsam hinter Paul das Lokal. Er wünschte sich weit weg und plötzlich überkam ihn das Heimweh. Wenn er doch nur daheim in seinem friedlichen Dorf wäre.
Paul wohnte bei seinen Eltern, im Keller hatte er seine Bude in der es nach abgestandenem Rauch stank. Auf dem Boden lagen mehrere Matratzen. Franz ließ sich auf eine davon sinken, wagte aber nicht, die Augen zu schließen. 
"Du wirst Schmiere stehen, während wir nachsehen, was zu holen ist. Kannst du pfeifen? So auf den Fingern, meine ich?" Er ließ einen grellen Pfiff ertönen, indem er zwei Finger in den Mund schob. 
Franz nickte und nach mehrmaligem Versuch gelang es ihm.
 "Nun hau dich  hin, heute Nacht musst du hellwach sein." 
Franz rollte sich auf der übel riechenden Matratze zusammen, doch schlafen konnte er nicht. Viel zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
Dann ging alles ganz schnell. Kurz vor Mitternacht machten sie sich auf den Weg zum Autobahnparkplatz. Jo und Micha waren auch schon da als sie ankamen. Sie trugen schwarze Klamotten und Mützen, die sie sich übers Gesicht zogen, als sie sich an die Lkws schlichen. Auch für Franz hatten sie so eine Mütze, in die Schlitze für die Augen geschnitten waren, mitgebracht.
"Dieser hier ist gut!", zischte Jo. "Die Plane lässt sich leicht öffnen!"
"Toll, lauter Computer, das bringt Kohle!"  Die drei kletterten in das Innere des Wagens, während Franz sich ängstlich umschaute und innerlich zitterte. Wenn das nur gut ging. Er fühlte sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut.
Doch es ging alles gut. Die drei schleppten Karton für Karton in einen Bulli, der nur wenige Meter vom LKW geparkt war. Franz fragte sich, wie der da hingekommen war. Dann hauten sie gemeinsam ab, nachdem sie den Bulli gut verschlossen hatten.
"Den holt der Fritz später ab!", erklärte Paul. 
Niemand hatte etwas von der Aktion bemerkt.
Später nachdem Paul die heiße Ware verscherbelt hatte, erhielt auch Franz seinen Anteil und sobald er konnte verschwand er und war heilfroh als er wieder zuhause war.
Der Ausflug in die Freiheit hatte einen bitteren Beigeschmack.
Müde hob Franz den Kopf und schenkte sich nochmal einen Schnaps ein.
Was wollte Paul nach all den Jahren von ihm?
Wie gut war es doch, dass Helene mit den Kindern zu ihrer Mutter gefahren war und erst am Sonntag zurückkommen würde. Das hätte noch gefehlt, dass sie erfuhr, was er in seiner Jugend getrieben hatte. Franz nahm sich aber vor, ihr selbst den Ausrutscher zu gestehen, wenn sie zurück war.
In seine Gedanken hinein schellte es an der Haustür. Franz erschrak!  
Vor der Tür stand Paul und grinste ihn spöttisch an, ohne ein Wort zu sagen drängte er sich an Franz vorbei.
Anerkennend sah er sich um. "Schön hast du es hier." 
Dann entdeckt er die Bilder auf dem Kaminsims.
"Nette Familie hast du." 
"Paul, oder Herbert, oder wie auch immer, was willst du von mir?" Franz schrie es fast. Vor Aufregung lief er rot an, aber der Schnaps hatte ihn mutig gemacht.
"Ich habe dir damals aus der Patsche geholfen und du bist einfach verschwunden, das war nicht nett von dir. Gar nicht nett!" 
"Ha, und das fällt dir nach dreißig Jahren ein. Weißt du, du hast meine Notlage damals ausgenutzt und ich war zu dumm und unerfahren. Aber ich habe schnell erkannt, dass ich nicht zum Verbrecher tauge, deshalb habe ich mich aus dem Staub gemacht.
Und ich bin dir gar nichts schuldig, denn ich bin ja für euch Schmiere gestanden, also sind wir quitt." 
Paul lachte und je mehr er lachte, desto wütender wurde Franz.
"Nun reg dich nicht auf, es war ein Scherz, Mann!", versuchte Paul ihn zu beruhigen.
"Komischer Scherz, ich lach mich tot!", Franz zeigte auf die Haustür. "Verschwinde, und lass dich nie wieder hier blicken!", schrie er. 
Paul blieb sitzen und alle Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Zorn und auch etwas wie Angst war in seinen Augen und leise murmelte er: "Du musst mir helfen, ich werde gesucht und weiß nicht wohin. Du hast mir doch damals vorgeschwärmt, wie schön und friedlich es hier bei euch ist."
Franz wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. "Bist du verrückt? Weißt du denn nicht, was ich mache?"
"Wie, was du machst?", fragte Paul ahnungslos.
"Ich bin Polizist! Du bringst mich in eine furchtbare Situation!"
"Ach du Schreck, ein Bulle!" 
"Ja, ein Bulle, also du kannst hier nicht bleiben. Ich müsste dich anzeigen." 
Franz schluckte, atmete tief ein und versuchte ruhig zu bleiben.
"Was hast du ausgefressen? Raub? Oder was Schlimmeres?", fragte er. "Ach, sag es mir besser nicht, ich will es gar nicht wissen. Du musst hier weg, sofort!" 
Paul verzog spöttisch das Gesicht und seine Augen funkelten bösartig.
"Was meinst du wohl, was dein Chef bei der Polizei sagen wird, wenn er von deiner kriminellen Vergangenheit erfährt."
Franz lachte und meinte ganz gemütlich.
"Erstens bin ich der Chef der Dienststelle und außerdem ist meine jugendliche Dummheit verjährt. Ich war noch minderjährig ."
Dann packte er ihn mit einem Polizeigriff und stieß ihn zu Tür.
"Und nun verschwinde! Sollte ich dich Morgen noch hier in unserem  Dorf antreffen, lasse ich dich verhaften."
"Ist ja schon gut, bin ja schon weg! Kannst du mir wenigstens etwas Geld für eine Übernachtung geben?" Paul ließ nicht locker, anscheinend stand ihm das Wasser bis zum Hals.
"Warte hier!", sagte Franz und schlug Paul die Haustür vor der Nase zu. Dann zog er seine Jacke an, holte den Autoschlüssel und verließ ebenfalls das Haus.
"Ich bringe dich in die Stadt zum Bahnhof und dort ziehen wir ein Ticket, damit ich sicher bin, dass du unser Dorf verlässt!"
Sie stiegen in Franz' Auto.  
Am Bahnhof fragte Franz wohin Paul fahren wollte, holte die Fahrkarte, dann drückte er ihm einige  Scheine in die Hand und wartete noch bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte.
Vergnügt pfeifend ging er zu seinem Auto. Das war ja gerade noch einmal gut gegangen. Dass ihn die Vergangenheit nach so langer Zeit einholen könnte, damit hatte Franz nicht gerechnet. Er nahm sich vor, seiner Frau und später auch seinen Kindern davon zu erzählen, denn wie schnell konnte das Glück sich in Luft auflösen, durch eine dumme Sache, die man verschwiegen hatte. Nicht auszudenken! Franz schüttelte sich, so als wolle er abwerfen, was in den letzten Stunden schwer auf seinen Schultern gelegen hatte.

© Regina Meier zu Verl und Lore Platz