Der magische Stein
Mucksmäuschenstill
ist es im Klassenzimmer, man hört nur das Quietschen der Kreide mit
der Herr Hartleitner eine Gleichung an die Tafel schreibt.
Rainer
versucht schnell im Kopf die Aufgabe zu lösen, denn wenn der
Mathelehrer ihn nach vorn an die Tafel ruft, dann würde wieder
voller Aufregung sein Hirn wie leer gefegt sein.
Mit
hochrotem Kopf würde er zu stottern anfangen und die anderen würden
lachen.
Wie
er das hasste.
Dabei
war er gut in Mathe, nur wenn er aufgerufen wurde, dann war er so
aufgeregt, dass er zu stottern anfing.
Und
im Sport war er erst recht eine Niete, ängstlich und feige.
Seine
Mitschüler hatten schon einen Spottvers auf ihn gedichtet, den sie
nach der Melodie der Vogelhochzeit sangen.
Der
Rainer, der Rainer
der
hat so Angst wie keiner
Nun
schweift der Blick des Lehrers durch die Klasse und Rainer versucht
sich ganz klein zu machen.
Zum
Glück ruft er Paul auf, den coolsten und beliebtesten Jungen
der Schule, in Sport eine Ass aber in Mathe?
Rainer
freut sich ein ganz klein wenig, als Paul plötzlich auch zu stottern
beginnt, weil er die Gleichung nicht lösen kann.
Buben
und Mädchen getrennt.
In
der Umkleidekabine wird Rainer von Paul verspottet, weil er bestimmt
wieder beim Klettern in die Hose machen würde und er schlägt ihm
vor, doch bei den Mädchen zu turnen.
Und
dann beginnt er noch die Melodie der Vogelhochzeit zu summen und die
Jungs singen lautstark.
Der
Rainer, der Rainer
der
hat so Angst wie keiner
Rainer
legt still seine Sachen in den Spind und geht in die Sporthalle,
verfolgt von dem lauten Gelächter seiner Mitschüler.
Heute
sollen sie am Klettergerüst turnen und Rainer hält sich so lang
wie möglich im Hintergrund.
Doch
dann kommt auch er dran.
Die
ersten Sprossen sind noch leicht, doch je höher er kommt, desto mehr
fängt er an zu schwitzen.
Die
Jungs feuern ihn an und Rainer macht den Fehler hinunter zu schauen.
Als
er sieht wie weit der Boden weg ist, wird ihm schwindelig und in
seinen Ohren beginnt es zu rauschen.
Verzweifelt
klammert er sich fest.
Er
wagt sich nicht mehr vorwärts noch rückwärts zu klettern.
Wie
durch einen Nebel hört er die Stimme des Sportlehrers, der plötzlich
neben ihm auftaucht.
„Keine
Angst, ich helfe dir, wir werden zusammen hinunter klettern, du musst
loslassen.“
Der
Lehrer muss seine Worte einige Male wiederholen bis sie zu Rainer
durchdringen.
Auf
dem Boden angekommen, befiehlt ihm Herr Berger, sich zu setzen und
den Kopf zwischen die Knie zu stecken und tief durchzuatmen.
Die
anderen Jungs sind auffallend ruhig und erschrocken beobachten sie
ihren Mitschüler, der kreideweiß ist und am ganzen Körper zittert.
Herr
Berger schickt sie nach draußen, dann setzt er sich neben Rainer und
wartet bis wieder Farbe in dessen Gesicht kommt.
„Rainer,
du hast Höhenangst, besorge dir ein Attest beim Arzt, dann bist du
vom Klettern befreit.“
Der
Junge nickt nur.
„Geht`s
wieder?“
„Ja,“
murmelt Rainer und steht auf, er schämt sich so.
Herr
Berger legt ihm die Hand auf die Schulter.
„Hör
mal mein Junge, Höhenangst haben auch Erwachsene und du bist noch
ein Kind, deshalb musst du dich nicht schämen.“
Nach
der Schule trottet er mit hängenden Kopf nach Hause, er beachtet
nicht einmal den Dackel Poldi, der ihm schwanzwedelnd entgegen läuft
und zur Begrüßung bellt.
Und
obwohl die Oma, die seit dem Tod des Opas bei ihnen wohnt, seine
Lieblingsspeise gekocht hat, stochert er nur lustlos in seinem Essen
herum.
„Die
Schule hat angerufen,“ meint die Oma leise.
Rainer
hebt den Kopf und Tränen funkeln in seinen Augen.
„Dann
weißt du ja, was für ein Versager ich bin!“
„Du
bist doch kein Versager!“ ruft die Oma erschrocken.
„Sicher,
ich bin doch kein richtiger Junge, mag nicht Fußball spielen,
klettere nicht auf Bäume und stecke nur den ganzen Tag meine Nase in
Bücher, wie ein Mädchen!“
Die
Oma muss schmunzeln, doch dann sagt sie ernst.
„Wer
sagt denn, dass Jungen dies alles können müssen, denk doch nur an
Marietta von nebenan, die klettert auf Bäume, spielt besser Fußball
als ihre Brüder und mit einem Buch in der Hand habe ich sie noch nie
gesehen.“
„Aber
ich habe doch immer vor allem Angst, ich bin ein richtiger Angsthase
und die Jungs in meiner Klasse haben
sogar
einen Spottvers auf mich gedichtet!“ ruft Rainer verzweifelt und
nun laufen die Tränen über sein Gesicht.
Die
Oma reicht ihm ein Taschentuch.
„Jeder
Mensch hat Angst in seinem Leben, es sind nur verschiedene Ängste.“
„Du
auch?“
„Aber
sicher, ich habe oft in meinem Leben Angst gehabt.
Warte
einen Moment!“
Die
alte Frau geht in ihr Zimmer und als sie zurück kommt legt sie einen
roten kleinen Stein auf den Tisch.
Rainer
nimmt ihn in die Hand und betrachtet ihn staunend
von
allen Seiten.
„Da
ist ein Kristall! Als ich deinen Opa kennenlernte und wir zum ersten
Mal in den Berge wanderten, kamen wir auch in eine Kristallhöhle.
Dieser
Stein saß ganz locker in der Felswand und dein Opa hat ihn
heraus gebrochen und ihn mir als Pfand unserer Liebe gegeben.
In
den fünfzig Jahren unserer Ehe hat dieser Stein mir oft geholfen.
Immer wenn ich Sorgen und Angst hatte, dann habe ich den Stein in die
Hand genommen und er gab mir Kraft.
Ich
brauche ihn nun nicht mehr, aber vielleicht hilft er jetzt dir.“
Rainer
nickt und legt den Stein vorsichtig auf sein flache Hand und
umschließt ihn mit den Finger.
Er
spürt wie ihm auf einmal leichter ums Herz wird und lächelnd sagt
er:
„Danke,
Oma!“
„Unser
Essen ist nun kalt geworden. Ich habe heute morgen gebacken, wie wäre
es mit einer Tasse Kakao und Keksen!“
Seit
diesem Tag trägt Rainer den Stein immer bei sich und er wird
tatsächlich von Tag zu Tag mutiger.
Wenn
er an die Tafel muss, wird er nicht mehr rot und
fängt
zu stottern an, sondern löst die Aufgaben.
Beim
Sport wagt er Übungen vor denen er sonst gezittert hat.
Nur
auf die Kletterwand muss er wegen dem Attest vom Arzt nicht mehr.
Rainer
wird von Tag zu Tag selbstbewusster.
Und
eines Tages grübelt er darüber nach, ob denn der Stein ihm nicht
auch helfen könnte, seine Höhenangst zu besiegen.
Und
nun beginnt er an dem großen Birnbaum im Garten zu üben.
Es
ist schwer, denn jedes Mal beginnt er wieder zu zittern, doch täglich
schafft er es ein Stückchen höher und dann sitzt er eines Tages auf
dem höchsten Ast.
Und
als er hinunter sieht, vorsichtshalber den Stein in der Hand fest
umschlossen, wird ihm kein bisschen schwindelig.
Er
hat es geschafft.
In
der nächsten Sportstunde geht er zu Herrn Berger und bittet ihn,
diesmal auch beim Turnen am Klettergerüst mit machen zu dürfen.
„Bist
du sicher?“ fragt dieser und als Rainer nickt, meint er
„gut,
aber ich werde neben dir klettern.“
Rainer
klettert flink wie ein Affe die Sprossen hoch.
Oben
angekommen dreht er sich um und winkt, dann klettert er genau so
schnell wieder hinunter.
Auf
dem Boden angekommen, verneigt er sich wie ein Künstler auf der
Bühne.
Begeistert
klatschend umringen ihn seine Mitschüler.
Was
so ein kleiner Stein doch für Wunder bewirken kann.
Vielleicht
aber liegt seine Magie an dem
„Glauben
an sich selbst.“
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