Als meine Tochter vier Jahre alt war, habe ich für sie einen Papierdrachen gekauft. Er war leuchtend gelb und hatte ein fröhlich verschmitztes Gesicht.
Wir warteten auf einen passenden Tag, an dem es leicht windig war und wanderten zusammen mit meinen zwei Neffen auf eine kleine Anhöhe. Wie freuten sich die Kinder, als der Drache fröhlich im Wind schaukelte. Mein neunjähriger Neffe fing dann zu laufen an, den Drachen hinter sich herziehend und verfolgt von den beiden jubelnden kleineren Kindern.
Auf einmal strauchelte der Junge, stürzte, und die Schnur des Drachens entglitt seinen Fingern.
Eine Windböe erfasste das gelbe Papiergebilde und trieb eshöher und weit weg von uns.
Ich stand da mit zwei heulenden Kindern und selbst der Neunjährige presste fest die Lippen zusammen, damit er nicht in ein unmännliches Weinen ausbrach.
Traurig gingen wir nach Hause und unterwegs sahen wir weit entfernt in den Drähten eines Telefonmastes unseren Drachen hängen.
Dies kleine Begebenheit hat mich zu der nachfolgenden Geschichte inspiriert.
Der Flug des Drachens
Hoch
oben in den Wolken liegt die Felsenburg des Windes.
Mutter
Wirbelwind huscht durch die Schlafstuben ihrer Kinder.
Ihre
Tochter Windsbraut, die ständige Begleiterin des Frühlings schläft
mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.
Ihre
Mutter betrachtet die zarte liebliche Schönheit zärtlich.
Dann
gleitet sie zu dem Bett ihres Sohnes , dem Südwind, der den Sommer
unterstützt.
Stolz
betrachtet sie die hübsche, stattliche Gestalt.
Etwas
bekümmert wandert ihr Blick hinüber zum Nordwind, dem Spießgesellen
des Winters.
Er
ist ein rauer, ruppiger Geselle und wohl der schlimmste ihrer
Kinder.
Leise
schwebt sie zu Huijui, dem Freund des Herbstes.
Er
ist ein hübscher rothaariger Bursche voller Temperament.
Sie
weckt ihn sanft und Huijui fährt hoch und seine Augen funkeln.
"Es
geht los?"
Seine
Mutter nickt.
"Prima!"
Ein
wilder Hauch fährt durch die Höhle und seine Geschwister bewegen
sich unruhig im Schlaf.
Huijui
folgt seiner Mutter zum Eingang.
"Sei
vorsichtig," ermahnt sie ihn.
Er
lacht nur und sorgenvoll blickt sie ihm nach.
Er
war manchmal zu leichtsinnig, wild und übertrieb gern.
Huijui
aber ist schon unterwegs zur Erde.
Er
saust vergnügt die Milchstraße hinab auf die Erde und fährt durch
die noch schlafenden Bäume, die vor Schreck ihre Blätter fallen
lassen.
Huijui
lacht übermütig und lässt die gelben, rostbraunen und roten
Blätter wild durch die Luft wirbeln.
Einigen
Menschen, die bereits zur Arbeit gehen, reißt er fröhlich die Hüte
vom Kopf, plustert die Kopftücher auf und bauscht die Mäntel.
Er
pustet den Staub der Straßen hoch und bringt die Menschen zum Husten
Vergnügt
rüttelt er an den Straßenlampen, die vor Angst zittern und ihre
Lichter flackern.
Als
er müde ist ruht er sich aus.
Huijui
sieht sich um und erblickt einige Jungen, die ihre Drachen aus der
Schnur wickeln.
Hier
werde ich gebraucht.
In
übermütigen Sprüngen saust er den Berg hinauf, wirft im vorbei
sausen noch ein Fahrrad um, verschnauft einen Moment, doch als er
sieht, wie die Kinder Anlauf nehmen, um die Drachen zum Steigen zu
bringen, stürzt er sich mit Begeisterung auf die Papierflieger.
Eine
Freude wie sie in alle Himmelrichtungen auseinander schwirren.
Ein
grellgelber Drache mit einem verschmitzten Gesicht hat es ihm
besonders angetan.
Er
scheucht ihn immer höher, wirbelt ihn dem Himmel entgegen, lässt
ihn wieder fallen bis er fast das Gras berührt und reißt ihn im
letzten Moment hoch.
Er
treibt sein wildes Spiel mit ihm.
Sie
genießen beide die wilde stürmische Jagd und bemerken nicht, dass
plötzlich die Schnur reißt und weit unten ein kleiner Junge
weint.
Doch
plötzlich los gelöst von allen Zwängen saust der gelbe
Papierdrache angetrieben von seinem Freund Huijui, der mächtig die
Backen bläst, über den Berg hinaus, der Stadt entgegen.
Langsam
segelt er jetzt über die Häuser, taumelt ein bisschen, denn er ist
müde und auch Huijui muss erst wieder zu Atem kommen.
Aber
als der Drache plötzlich an einen Fabrikschornstein stößt
saust Huijui schnell herbei und bläst ihn mit letzter Kraft
an dem gefährlichen Hindernis vorbei.
"Ich
muss nach Hause, lieber Freund! Vielleicht begegnen wir uns wieder
einmal!" ruft der Wind, bläst
den Drachen noch einmal kräftig nach oben und verschwindet.
Der gelbe Fetzen genießt noch einmal den Flug, wird immer langsamer, taumelt und landet schließlich auf den Ästen eines Apfelbaumes.
Müde sackt er zusammen.
Gegenüber ist ein Fenster und dahinter sitzt ein trauriger kleiner Junge. Auf dem Gesicht sind noch Spuren von Tränen zu sehen.
Nun hebt er den Kopf und erstarrt.
„Mama, Papa!“ schreit er gellend.
„Mein Drache ist wieder nach Hause gekommen!“
(c) Lore PLatz
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