Der 1. Mai!
Die Frau lehnt sich in dem bequemen Lehnstuhl zurück und legt die Brille auf das aufgeschlagene Buch in ihrem Schoß.
Wie so oft schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit.
Seit dem Tod ihres Mannes lebte sie bei ihrem Sohn und seiner Familie.
Jeden Morgen dankte sie Gott, dass sie von soviel Liebe umgeben war. In den siebzig Jahren die sie nun auf Erden weilte, hatte das Schicksal ihr oft viele Steine in den Weg geworfen, aber an einem hat es ihr nie gefehlt, an Liebe.
Die Tür öffnet sich und Cornelia guckt herein.
„Störe ich Oma?“
„Komm nur herein, ist es denn schon so spät?“
„Nein, die letzte Stunde ist ausgefallen, Lehrerkonferenz.“
Die Achtjährige tritt näher, holt sich den Fußschemel, setzt sich und legt ihren Kopf an die Knie der Oma.
Sie reicht das mit Glitzersteinen verzierte Poesiealbum, das sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, der alten Frau.
„Sieh mal, was meine Klassenlehrerin hinein geschrieben hat.“
Die Oma öffnet das Buch, setzt die Brille auf und liest lauf vor:
„Willst du glücklich sein im Leben,
Trage bei zu andrer Glück,
Denn die Freude, die wir geben,
Kehrt ins eigne Herz zurück.
Versonnen lächelnd schließt sie das Album.
„Als ich so alt war wie du hatte ich auch ein Poesiealbum, es war hellblau, denn blau ist meine Lieblingsfarbe. Meine Freundin hat mir denselben Spruch in ihrer saubersten Schönschrift reingeschrieben.“
„Soooo alt ist der Spruch schon!“
„Oh, noch viel älter. Marie Calm eine Schriftstellerin hat ihn geschrieben und die lebte von 1832 bis 1887. Kannst du rechnen wie alt sie geworden ist?“
"Wie macht man das?“
„Du musst nur von 87 die 32 abziehen.“
„Darf ich die Finger nehmen? Frau Streit erlaubt es nicht.“
Die Oma nickt.
Mit gerunzelter Stirn spielt die Kleine mit ihren Fingern und ruft dann strahlend. „55!“
„Stimmt!“
„Das ist aber nicht alt.“
Zu der Zeit gab es wenig Ärzte und auch Krankenhäuser und vor allen keine so gute Medizin wie heute.
Cornelia ist still und wieder ist ihre Stirn gerunzelt.
„Du Oma, ich verstehe das Gedicht nicht so richtig.“
Lächelnd streichelt ihr diese über den Kopf.
„ Das bedeutet, wenn du jemanden glücklich machst und wenn es nur durch ein freundliches Lächeln ist. Dann freust du dich und bist auch selber glücklich.
Als ich noch ein junges Mädchen war arbeitete ich als Sekretärin bei einem Anwalt, dessen Praxis in einem großen Gebäude war.
Wenn man dieses betrat musste man bei einem Pförtner seinen Namen und die Uhrzeit eintragen.
Dieser war ein alter unfreundlicher Mann und erwiderte meinen freundliche Gruß nie. Da wurde ich trotzig, und dachte dann grüße ich dich eben nicht mehr.
Eines Tages war ich spät dran und als ich das Haus betrat sah ich den Mann in seiner Kabine stehen und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über das Bein streichen.
Ich hatte gehört, dass er eine Kriegsverletzung hatte und schämte mich. Sicher war er nur so missmutig,weil er Schmerzen hatte. Und von diesem Tag an grüßte ich ihn und wechselte ein paar freundliche Worte mit ihm. Und er wurde anders , freute sich wenn ich kam und war nie mehr so mürrisch.
Eines hat mich dies gelehrt, man darf nie vorschnell urteilen und dass die Menschen oft nur ein freundliches Wort brauchen.“
„Meinst du, dass Frau Olsen deshalb immer so böse zu uns ist, weil sie auch Schmerzen hat?“
Frau Olsen war eine Nachbarin, die immer wenn die Kinder im Hof spielten, sich laut schimpfend aus dem Fenster lehnte.
„Ich weiß es nicht, sie hat zu niemand hier Kontakt, ich denke sie ist sehr einsam und deshalb finde ich es sehr traurig, dass ihr immer alte Hexe schreit.“
Cornelia wird rot und senkt den Blick.
„Mir gefällt es auch nicht, aber...“ flüstert sie.
„Du hast Angst die anderen würden dich verspotten wenn du nicht mitmachst?“
Das Mädchen nickt.
Einige Tage hat es geregnet und die Kinder konnten nicht nach draußen, doch dann scheint endlich die Sonne und die Kinder können sich wieder austoben.
Und natürlich sind sie dabei nicht leise und sofort geht das Fenster im Erdgeschoss auf und die keifende Stimme der alten Frau Olsen ist zu hören.
Als hätten die Kinder nur darauf gewartet stürzen sie über den Hof, bauen sich vor dem Fenster auf und brüllen: „Alte Hexe, alte Hexe, alte Hexe!“
Klirrend schlägt das Fenster zu.
Nur Cornelia beteiligt sich nicht, leise mit gesenkten Kopf schlüpft sie durch die Haustür, läuft die Stufen in den ersten Stock hinauf und klingelt an der Tür.
Die Oma öffnet lächelnd: „keine Lust mehr zum spielen?“
Cornelia schüttelt heftig den Kopf und Tränen purzeln aus ihren Augen.
Die Oma schiebt sie in die Küche.
"Setz dich, ich denke du brauchst jetzt einen leckeren warmen Kakao.“
Frau Baumgartner war nämlich der Meinung mit einer guten Tasse Kakao kann man leichter Probleme lösen.
Cornelia erzählt ihr nun, dass Frau Olsen sich wieder laut beschwert hat und alle Kinder vor ihrem Fenster laut alte Hexe geschrien hätten.
Sie aber konnte nicht mitmachen, denn sie hatte an ihr Gespräch von gestern gedacht.
Liebevoll streicht die Oma ihrer Enkelin übers Haar.
„Weißt du was, Frau Olsen wohnt ja noch nicht lange hier, wir holen jetzt Blumen aus dem Garten und und machen ihr einen nachbarlichen Besuch. Weißt du mein Vater sagte immer ; mit Reden kommen die Leute zusammen.“
(c) Irmgard Brüggemann |
Wenig später stehen sie mit einem fröhlich bunten Blumenstrauß vor der Tür von Frau Olsen.
Es dauert einige Zeit bis geöffnet wird und Frau Olsen schwer auf einen Stock gestützt sie mit finsteren Blick mustert.
„Guten Tag Frau Olsen ich bin Frau Baumgartner und das ist meine Enkelin Cornelia, wir möchten sie herzlich als neue Nachbarin willkommen heißen. Dürfen wir herein kommen.“
Nach kurzem Zögern tritt die alte Frau zur Seite und sie folgen ihr in die Küche.
Frau Olsen hält sich zitternd am Küchentisch fest und Frau Baumgartner eilt an ihre Seite und hilft ihr auf den Stuhl.
„Arthritis?“ fragt sie mitfühlend.
„Ja, zur Zeit ist es wieder besonders schlimm.“
„Wir haben ihnen Blumen mitgebracht, wenn sie mir sagen, wo eine Vase ist, kann ich sie ins Wasser stellen.“
Frau Olsen betrachtet Cornelia, die noch immer stumm und mit roten Backen am Tisch steht.
„Dich kenne ich doch, du gehörst auch zu der Bande, die mich als alte Hexe beschimpft.“
„Wir machen nichts böses, wir wollen nur auf dem Spielplatz spielen und natürlich ärgern wir uns wenn sie uns immer schimpfen. Aber es ist nicht richtig, dass wir sie alte Hexe nennen und dafür möchte ich mich entschuldigen.“
Die alte Frau sieht sie lange an, dann lächelt sie.
„Es ist sehr mutig von dir dich zu entschuldigen. Ich habe oft so große Schmerzen, dass mich oft die Fliege an der Wand verrückt macht. Aber deshalb habe ich nicht das Recht es an euch auszulassen. Ich habe wohl vergessen wie es ist ein Kind zu sein und ich habe die alte Hexe wohl verdient. Ich möchte mich auch bei dir entschuldigen.“
Sie reicht Cornelia die Hand.
Die Oma, die an der Spüle die Blumen in die Vase richtet, schmunzelt vor sich hin.
An diesem Abend schläft Cornelia mit einem glücklichen Lächeln an ihren Teddy geschmiegt.
Und von diesem Tag an bleibt das Fenster von Frau Olsen geschlossen, wenn die Kinder draußen spielen.
Und Frau Baumgartner hat sich vorgenommen sich ein wenig um die kranke Nachbarin zu kümmern, denn ein wenig Freundlichkeit bringt Wärme in das Leben eines jeden Menschen.
Ja Freundlichkeit und Verständnis, das fehlt überall in der Welt Lore. Schöne Geschichte!
AntwortenLöschenEs wird nicht mehr gelehrt,was für einander,bedeutet. Verantwortung stirbt aus.Fein Lore
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