Sonntag, 16. Dezember 2018

Florian und die verzauberte Gans Gisela

Florian und die verzauberte Gans Gisela

Florian liebt seinen Adventskalender. Wie gut, dass noch einige Türchen zu öffnen sind, denn jeden Tag findet sich eine andere Überraschung in den Säckchen, die Oma extra dafür genäht hat. Heute ist ein Gutschein drin. 'Mit Oma und Opa den Weihnachtsmarkt besuchen', steht drauf.
Florian freut sich. Er liebt den Weihnachtsmarkt. Es duftet so schön und es gibt so viel zu sehen. Wunderschöne Krippen und Figuren, niedliche Engel und vor allem geschnitzte Tiere, die gefallen ihm am besten. Später wenn sie genug gesehen haben würden, gäbe es sicher wieder eine Bratwurst und wenn die Oma nicht hinsähe, durfte er vielleicht einen Schluck von dem Glühwein probieren.
Aber zuerst will Florian einen Termin mit Oma und Opa machen. Er ruft die beiden an.
„Hallo Oma, hier ist der Flori!", sagt er und kichert. „Nun rate mal, was ich heute in meinem Adventskalender gefunden habe!" 
„Weiß ich nicht?", stellt sich die Oma ahnungslos.
„Ich darf mit euch auf den Weihnachtsmarkt!"
„Na sowas, und wann soll das denn sein?"
„Deshalb rufe ich doch an!"
„Was hältst du davon, wenn wir heute Abend gehen?", fragt Oma und Florian ruft begeistert. „Oh ja, das ist prima. Holt ihr mich ab?"
Klar holen Oma und Opa ihren Enkel ab. Dick eingepackt in seinen neuen Anorak, mit Mütze auf den Ohren und warmen Handschuhen geht es los. Schon von Weitem hören sie die weihnachtliche Musik und das Stimmengewirr auf dem Marktplatz. Je näher sie kommen, desto köstlicher riecht es. Florian läuft das Wasser im Mund zusammen.
Staunend sieht er sich um. Er hat ganz vergessen wie herrlich es auf dem Weihnachtsmarkt ist. Außerdem ist er ja wieder ein Jahr älter und sieht alles mit anderen Augen.
Der Opa bleibt bei einem Stand mit geschnitzten Krippenfiguren stehen und unterhält sich mit dem bärtigen Mann, der dahinter steht. Die Oma ist bereits weitergegangen und betrachtet die Weihnachtskugeln.
Opa winkt Florian zu sich und deutet auf die Figuren.
„Wollen wir wieder ein Tier für unsere Krippe dazu kaufen? Wie wäre es zum Beispiel mit diesem Schäferhund?"
Florian nickt strahlend und beugt sich über die Figuren.
„Nimm mich mit!" Florian hört ein feines Stimmchen. Verwirrt versucht er auszumachen, von wo diese Stimme kommt.
„Hier bin ich!", sagt die Stimme und dann sieht Florian, wer da mit ihm redet. Vorsichtig nimmt er die winzige Gans auf seine Handfläche und betrachtet sie. „Du kannst sprechen?", fragt er ungläubig, beinahe davon überzeugt, dass er träumt. 
„Ja aber nur mit Kindern, die an noch an das Wunder des Weihnachtsfestes glauben. Nimm mich bitte mit, ich möchte zu gerne an der Krippe des kleinen Jesus stehen. Unsereins darf doch sonst nur als Braten am Weihnachtsfest teilnehmen. Bitte!"
„Florian führst du Selbstgespräche?"
Der Junge wird etwas rot und streckt dem Opa die Hand mit der Gans entgegen. „Könnten wir die mitnehmen?"
„Eine Gans? Aber gut, wenn du das möchtest. Warum auch nicht!", sagt Opa und reicht dem Verkäufer einen Geldschein.
Florian steckt die Gans in seine Jackentasche, dort hat sie es schön warm. Zu Hause wird er sie auf sein Nachtschränkchen stellen, bis am Heiligabend die Krippe im Wohnzimmer aufgebaut werden wird. 
Als er am Morgen erwacht fällt sein erster Blick auf die weiße Gans und er überlegt, ob er sich das nur eingebildet hat, dass sie mit ihm gesprochen hat. 
Da plappert die Gans auch schon wieder los.
„Guten Morgen Florian!", sagt sie. Florian reibt sich die Augen.
„Guten Morgen Gans, hast du auch einen Namen?", will er wissen.
„Selbstverständlich habe ich einen Namen. Ich heiße Gisela und bin eine verzauberte Prinzessin!" Gisela kichert. 
Florian will sich ausschütten vor Lachen. 
„Das hättest du wohl gern. Wenn du eine verzauberte Prinzessin wärst, dann müsstet du wenigstens aus Fleisch und Blut sein, du aber bist aus einem Stück Holz geschnitzt."
„Naja aber schön wäre es schon und außerdem warum kann ich dann mit dir reden?"
„Hm, das ist allerdings seltsam?" 
„Natürlich hast du recht, ich bin eine geschnitzte Holzgans, aber bevor ich das wurde, war ich aus Fleisch und Blut, so wie du. Zwar war ich keine Prinzessin, sondern eine ganz normale Gans, aber ich habe einmal das Christkind beschützt. Als sich Diebe in die Kirche gestohlen hatten, die das Christkind aus der Krippe mopsen wollten, bin ich aus dem Korb meiner Besitzerin gesprungen und habe laut geschnattert. Ich kann dir sagen, das war ein Theater!", erzählt Gisela stolz.
„Was hattest du denn in der Kirche zu suchen?", fragt Florian neugierig. 
„Meine Bäuerin hat mich auf den Markt getragen und wollte mich verkaufen, da ist sie an der Kirche vorbeigegangen und wollte schnell ein Gebet sprechen. Dabei hat sie die Diebe gestört und durch mein lautes Geschnatter sind der Pfarrer, der Mesmer und einige Leute von der Straße in die Kirche gekommen und haben die Diebe dingfest gemacht. Einen der Diebe habe ich noch kräftig ins Bein gezwickt."
„Und was geschah dann?"
„Nun war ich plötzlich berühmt. Natürlich konnte ich nun nicht mehr verkauft werden, denn schließlich kann eine Berühmtheit nicht als Gänsebraten enden."
Florian schüttelt den Kopf.
„Aber das erklärt immer noch nicht, warum du nun eine Holzgans bist?"
Gisela lachte, das klang lustig, weil es eine Mischung aus Geschnatter und Gelächter war.
„Stimmt! Dann will ich es dir jetzt erklären, auch wenn ich vermute, dass du nicht glauben wirst, was du jetzt erfährst!"
Florian wehrt ab. Immerhin hat er sich auf ein Gespräch mit einer hölzernen Gans eingelassen, das war schon einigermaßen seltsam. Was sollte da noch Unglaublicheres kommen?
„Erzähle einfach, ich bin gespannt!", bittet er die Gans. 
„Also ich wurde berühmt und viele Menschen kamen auf den Hof meiner Bäuerin nur um mich zu sehen. Leider ...", die Gans wird etwas rot, "stieg mir der ganze Ruhm in den Kopf und ich wurde hochmütig und dachte, ich wäre etwas Besseres. Ich führte mich auf wie eine Königin behandelte die anderen Gänse wie ein gemeines Fußvolk. Sie mussten sogar Spalier stehen wenn ich zum Futtertrog ging, aus dem ich als erste fressen durfte. Ich war wirklich sehr, sehr gemein."
Gisela senkt beschämt den Kopf.
„Dann kamen immer weniger Menschen und bald wollte mich niemand mehr sehen. Eines Tages stand ein hübscher kleiner Junge am Zaun und sah zu mir herüber. Mit hocherhobenem Kopf watschelte ich zu ihm, um mich bewundern zu lassen. Doch er sah mich unendlich traurig an und sagte:
„Gisela ich bin dir sehr dankbar, dass du mich gerettet hast, aber es macht mich traurig, wenn ich sehe wie der Ruhm dich verändert hat. Deshalb muss ich dich bestrafen. Das Leben will ich dir nicht nehmen, aber ich muss dich leider verwandeln."
Ich spürte einen Ruck durch meinen Körper und wurde ganz klein und hölzern. Der Junge bückte sich, hob mich vorsichtig auf, dann waren wir plötzlich auf dem Weihnachtsmarkt und er stellte mich zwischen die anderen geschnitzten Figuren. Der Junge war das Christkind höchstpersönlich und deshalb möchte ich an seiner Krippe stehen, denn es tut mir leid, dass ich so garstig war."
Florian traut seinen Ohren nicht.
„Gisela, du bist unglaublich! Eine Märchenerzählerin bist du. Nie und nimmer ist das wahr, was du mir gerade erzählt hast, aber es war eine bewegende Geschichte.", sagt er.
„Glaub, was du willst - ich schwöre, dass es die Wahrheit ist, so wahr ich Gisela heiße!", sagt die Gans leise und von dem Moment an schweigt sie und sagt nie wieder ein Sterbenswörtchen.

© Regina Meier zu Verl & Lore Platz