Die
Prophezeiung
Keuchend
läuft ein Zwerg auf seinen kurzen stämmigen Beinen durch den Wald
und ruft immer wieder:
„Sie
sind da, sie sind da, die gelben Drachen sind da!“
Ringsum
wird es lebendig und Tiere, Pilzmännchen und Wurzelwichtel kommen
aus dem Gebüsch.
„Was
ist los, was ist los?“
„Kommt
mit zum Versammlungsort!“
Die
kleine Lichtung inmitten des Waldes füllt sich und der Zwerg
klettert auf den großen Stein in der Mitte.
Einen
Moment stützt er sich auf den Knien ab und atmet keuchend ein und
aus, dann aber sieht er sich um und verkündet mit düsterer Stimme.
„Ich
habe sie gesehen, die gelben feuerspeienden Drachen, die das Orakel
vor hundert Jahren prophezeit hat. Sie sind gekommen, um unser
Land zu vernichten!“
„Ach
Unsinn!“ ruft eine Blaumeise, die sich mit den anderen Vögeln auf
den Bäumen niedergelassen hat, „ das sind Baumaschinen, keine
Drachen, ich habe solche Dinger schon in der Stadt gesehen!“
„Trotzdem
werden sie unser kleines Reich vernichten!“
Ein
alter Mann mit langem weißem Haar betritt die Lichtung und
ehrfürchtig machen die Versammelten ihm Platz.
Es
ist der Zauberer Marlin, der schon viele hundert Jahr lebt und sehr
weise und klug ist.
„ Es
stimmt, die Drachen sind längst ausgestorben, aber den Menschen ist
es gelungen ihre eigenen Drachen zu bauen. Es sind feuerspeiende
Maschinen, die die Luft verpesten und viel zerstören können.
Der
Enkel des Jungen, der vor hundert Jahren versprochen hat, dass er und
seine Nachkommen unsere kleine Welt schützen werden, liegt im
Sterben und sein Sohn ist bereits vor ihm ins andere Reich
gewechselt.
Der
Schwiegersohn des Sterbenden aber ist ein böser Mann und er hat mit
dem Bürgermeister ausgehandelt eine große Straße hier zu bauen.“
„Was
sollen wir denn tun?“
Große
Unruhe macht sich breit.
„Wir
müssen sie aufhalten! Wir könnten die Hexen zu Hilfe
rufen!“
Der
alte Zauberer lächelt traurig.
„Und
wenn wir alle zusammen unsere Zauberkräfte einsetzen, die Maschinen
sind zu stark.“
„Der
Sohn des alten Mannes aber hatte eine Tochter!“ ruft eine kleine
Elfe.
Der
Zauberer sieht sie mit einem scharfen Blick an und erschrocken zieht
sie ihr Köpfchen ein und das kleine Stückchen Apfel, das sie
hält, fällt ihr aus der Hand.
„Du
kennst ein Menschenkind?“
„ Ja,
sie heißt Elsbeth und ich traf sie einmal im Wald, als sie Beeren
pflückte und seitdem sind wir Freundinnen.“
„Das
ist wunderbar, denn im Orakel heißt es auch, wenn in hundert Jahren
noch ein Menschenkind mit einem Wesen aus unserer Welt befreundet
ist, dann kann die Gefahr abgewendet werden. Flieg zu deiner Freundin
Belablu, vielleicht kann sie uns helfen. Aber beeile dich, denn die
Todesfee ist schon auf dem Weg zu dem alten Mann.“
Die
Elfe schwirrt los und erreicht nach kurzer Zeit die schöne große
Villa.
Da
sie schon öfter ihre Freundin besucht hatte wusste sie, wo deren
Zimmer lag.
Sie
hat Glück, das Fenster ist offen und die kleine Elsbeth
sitzt
auf ihrem Bett und weint bitterlich.
Belablu
setzt sich auf ihre Schulter und spricht leise tröstende Worte in
das Ohr des Mädchens.
Elsbeth
wischt sich über die Augen und schnieft.
„Wie
schön, dass du gekommen bist, ich bin so furchtbar traurig, mein Opa
wird sterben und dann bin ich ganz allein.“
„Nein,
ich bin doch auch noch da und außerdem du hast doch noch deine
Tante Luise.“
„Ja,sie
ist nett, aber Onkel Willi ist ein Ekel und meine Tante fürchtet
sich vor ihm und ist viel zu schwach sich gegen ihn zu wehren. Sobald
Opa tot ist komme ich weit weg in ein Internat und dann können wir
uns auch nicht mehr sehen.“
„Das
werden wir sowieso nicht mehr, wenn nicht ein Wunder geschieht.“
Und
nun erzählt die kleine Elfe ihrer Freundin in welcher Gefahr das
Reich der 'Kleinen Leute' schwebt.
Elsbeth
springt so schnell auf, dass Belablu auf das Bett purzelt.
Kichernd
folgt sie ihrer kleinen Freundin in das Schlafzimmer ihres Opas.
Der
alte Mann liegt mit geschlossen Augen da und atmet leise.
Am
Kopfende des Bettes steht die Todesfee, die aber nur Belablu sehen
kann.
Elsbeth
beugt sich über den Sterbenden und flüstert eindringlich:
„Opa
bitte wach auf, das Land der 'Kleinen Leute' ist in großer Gefahr,
Onkel Willi möchte es dem Erdboden gleich machen und eine Straße
bauen.“
Der
alte Mann öffnet die Augen:
„Was
sagst du da?“ krächzt er mit schwacher Stimme.
Und
nun erzählt ihm das Mädchen was es von der Elfe erfahren hat, auch
dass Onkel Willi sie ins Internat stecken will.
Die
Augen des Sterbenden blitzen auf und für einen Moment kehrt seine
Kraft wieder.
„Lauf
Kind und hole Notar Baumgartner, die Suppe wollen wir ihm versalzen.“
Elsbeth
springt auf und hätte beinahe ihre Tante umgerannt, die mit einer
Tasse Tee das Zimmer betritt.
Während
sich die müde und verhärmt aussehende Frau an das Bett ihres Vaters
setzt, fliegt Belablu hinüber zu der Todesfee.
„Du
hast gehört, dass unser Reich in Gefahr ist, bitte warte noch.“
„Seine
Uhr ist abgelaufen, er muss jetzt gehen!“
„Dann
halte sie noch ein wenig an, bis er Vorsorge für uns getroffen hat.“
Die
Todesfee sieht sie lange und ernst an, dann nickt sie.
„Danke.“
Ein
Mann betritt das Zimmer und blickt unwirsch auf das Bett.
„Lebt
der Alte immer noch!“
„Wilhelm,
wie kannst du nur so gemein sein, er ist mein Vater!“ ruft Luise
entsetzt.
„Ach
was, ein alter Querkopf ist er, aber sobald er die Augen endlich
geschlossen hat, werden wir mit dem Bau der Autobahn beginnen!“
Die
Frau schlägt schluchzend beide Hände vors Gesicht.
„Ja
flenne nur, mehr kannst du ja doch nicht, das einzig gute an dir ist,
dass du eine reiche Erbin bist!“
Der
alte Mann hat die Augen geschlossen, nur das zucken der Lider und der
zusammengepresste Mund zeigen, wie wütend er ist.
Als
sein Schwiegersohn das Zimmer verlassen hat, öffnet er die Augen und
seine Hand tastet nach der seiner Tochter und dann beginnt er leise
und eindringlich auf sie einzureden.
Belablu
aber folgt dem Mann.
Draußen
im Hof steht der Bürgermeister.
„Ist
er tot?“
„Nein,
der Alte ist zäh wie Leder. Aber ich habe so ein komisches Gefühl,
vorhin ist die Kleine an mir vorbei gelaufen.
Sie werden uns doch im letzten Moment nicht noch einen Strich durch
die Rechnung machen wollen.
Wir
holen jetzt die Bauarbeiter und walzen alles nieder, dann können sie
gar nichts mehr machen!“
Belablu
erschrickt und schnell fliegt sie zu ihren Freunden in den Wald.
Diese
freuen sich, als sie hören, dass der alte Mann ihnen helfen will,
aber als die Elfe ihnen erzählt was Wilhelm vorhat, da sind sie
betroffen.
„Dann
ist alles verloren, mein Zauber ist zu schwach gegen diese
Monstermaschinen,“ murmelt der Zauberer niedergeschlagen.
„Unsinn!“
ruft der Marder, der auf den Stein gesprungen ist, „ ich weiß, wie
wir sie aufhalten können.“
„Und
was willst du dafür oder ist dein Rat völlig uneigennützig!“
ruft die Eule, die den Marder nicht leiden konnte.
Der
Marder wirft ihr einen ärgerlichen Blick zu.
„Ja,
schließlich geht es auch um meine Heimat, du dummer Vogel!“
„Hört
auf mit dem Gezanke, wir haben wenig Zeit.“ grollt Marlin.
Der
Marder berichtet ihnen nun wie man die Maschinen lahm legen kann,
nämlich indem man die Gummischläuche einfach durchbiss.
Nun
laufen sie alle zu der Wiese, auf der in einer Reihe mehrere große
Baummaschinen standen.
Ratten,
Mäuse, Eichhörnchen, Hasen und Marder schlüpften schnell unter
die „Drachen“ und gerade noch rechtzeitig haben sie alle
Schläuche beschädigt, bevor mehrere Autos auf die Lichtung fahren.
Während
der Bürgermeister und Wilhelm mit zufriedenen Gesichtern da stehen,
klettern die Arbeiter auf die Maschinen.
Ein
mehrfaches kreischendes Geräusch ertönt, dann ist Stille.
„Was
ist los ! Macht endlich!“ brüllt Wilhelm.
„Er
springt nicht an, meiner auch nicht!“ rufen die Arbeiter und einer
der Männer,der unter seinen Bulldozer geschaut hatte ruft:
„Die
Schläuche sind alle durchgebissen!“
In
dem Moment fährt ein Auto vor und Notar Baumgartner, Luise und
Elsbeth kommen auf die kleine Gruppe zu.
„Was
tun sie hier, sie sind widerrechtlich auf fremden Land.“
„Unsinn,
das Land gehört mir, sobald der alte Mann tot ist,“ prahlt
Wilhelm.
„Da
täuscht du dich, mein lieber Mann,“ sagt Luise spöttisch, „bevor
Vater starb, hat er alles Elsbeth hinterlassen und ich bin
einverstanden damit.“
Sie
streckt die Hand aus und der Notar gibt ihr einen Briefumschlag.
Mit
einem traurigen Lächeln betrachtet sie diesen, dann sagt sie leise,
während sie ihrem Mann in die Augen sieht.
„ Ich
habe es nie geschafft, mich von dir zu trennen, denn ich fürchtete
einsam zu sein, doch inzwischen habe ich erkannt, einsamer,
als mit dir zusammen kann ich gar nicht werden. Mein Vater hat mir
eine monatliche Rente ausgesetzt und lebenslanges Wohnrecht in der
Villa, aber nur unter der Bedingung, dass ich mich von dir scheiden
lassen.“
Sie
drückt ihm die Scheidungspapiere in die Hand und wendet sich ab.
„Das
wirst du bereuen!“ knirscht Wilhelm und stapft zu seinem Auto.
Der
Bürgermeister und die Arbeiter haben sich inzwischen längst
verdrückt.
Elsbeth
aber ist zu ihren kleinen Freunden gelaufen und jubelnd wird sie
umringt.
Immer
wieder danken sie ihr und das Mädchen erklärt ihnen, dass sie
niemals wieder Angst haben müssen und verspricht sie recht oft zu
besuchen.
Marlin
aber verspricht, dass alle zur Beerdigung ihres Großvaters kommen
werden, natürlich wird nur Elsbeth sie sehen können.
Viele
Menschen begleiten den allseits geachteten Mann auf seinem letzten
Weg.
Und
als Elsbeth an ihre Tante geschmiegt am offenen Grab ihres Opas
steht, sieht sie auch die 'Kleinen Leute', die ihr aufmunternd
zulächeln und sie fühlt sich getröstet in ihrem großen Kummer.
Der
Bürgermeister aber fühlt sich nicht wohl in seiner Haut.
Denn
wenn er die schadenfrohen Blicke sieht, die ihm gelten, dann weiß
er:
'
Die nächste Wahl wird er nicht gewinnen'
©
Lore Platz 2022