Der
kleine Zwerg
Die
achtjährige Lenerl stapft mit tief gesenktem Kopf die Auffahrt
entlang und betritt das Haus. Sie nimmt den Schulranzen ab und stellt
ihn auf den Boden neben den Schuhen, die aufgereiht wie die Soldaten
nebeneinander stehen.
Die
Mutter steckt den Kopf durch die Küchentür und begrüßt sie
lächelnd, doch dann wird ihr Gesicht ernst.
Sie
sieht der Kleinen an, dass etwas schief gelaufen ist, doch sie
spricht sie nicht darauf an. Lenerl wird darüber selbst sprechen,
wenn sie dazu bereit ist.
Im
Gegensatz zu der zwölfjährigen Elsa, die mit beiden Beinen fest auf
der Erde steht, ist Lenerl ein empfindsames Kind, das man anders
behandeln muss, als ihre Schwester.
Schweigsam
löffelt sie dann auch ihre Suppe, während Elsa aufgeregt von ihrem
Projekt erzählt, das sie für Schule basteln muss. Sie sollten aus
den Materialien die der Herbst schenkt etwas bauen und sie will einen
Märchenwald basteln.
Heute
Vormittag sind sie mit ihrer Klasse zwei Stunden durch den Wald
gestreift und haben Moos, Tannenzapfen, Blätter und kleine Äste
gesammelt und Kastanien durften sie von dem großen Baum im Schulhof
schütteln.
Lachend
erzählt sie wie sie mit dem großen Max fast um die Kastanien
gerauft hat.
Die
Mutter hört nur mit einem Ohr zu, denn sie sieht wie dicke Tränen
in Lenerls Suppe tropfen und gibt Elsa mit der Hand ein Zeichen.
Diese
bemerkt nun auch das traurige Gesicht ihrer Schwester.
„Was
hast du denn?“
„Die
andern haben gesagt ich darf heute Nachmittag nicht mitkommen zum
spielen, weil ich ein Feigling und Angsthase bin und deshalb ein
Spaßverderber,“
schluchzt
Lenerl, springt auf und verlässt laut weinend die Küche.
Elsa
will ihr nachlaufen, doch die Mutter hält sie zurück.
„Lass
sie, du weißt Lenerl muss sich erst ausweinen bevor man wieder
vernünftig mit ihr sprechen kann.“
Und
so ist es auch. Nach einiger Zeit kommt die Kleine wieder in die
Küche und schmiegt sich an die Mutter und nach einer Tasse heißen
Kakao sieht alles schon wieder besser aus.
Und
als Elsa ihrer Schwester vorschlägt, ihr beim Basteln zu helfen, da
ist die Welt für Lenerl wieder in Ordnung.
Glücklich
sitzt sie neben ihrer Schwester vor sich den Korb mit den heute
gesammelten Materialien, die so herrlich nach Wald duften.
Unter
den geschickten Händen von Elsa entstehen nun Zapfenbäume, aus
Klorollen, Ästchen und Zapfenschuppen.
Die
Klorollen darf Lenerl aus der großen Schatztruhe ihrer Schwester
holen.
Die
Kleine liebt diese Truhe, in der Elsa alles sammelt, was sie zum
basteln brauchen konnte.
Auf
einer großen Platte, die sie von der Schule bekommen hatte. klebt
die Künstlerin nun die Bäume auf. Lenerl darf das duftende Moos
verteilen, dann sieht sie staunend zu, wie ihre Schwester mit
geschickten Händen einen großen Bär aus Kastanien bastelt. Eine
Kastanie schnitzt sie zu einem Bärenkopf.
„Hier,
mal die gelb an.“
Elsa
reicht Lenerl eine große Kastanie. Und voll konzentriert, die
Zungenspitze zwischen den Lippen, bemalt diese die Kastanie.
„Was
wird das?“
Elsa
lächelt und bemalt mit dünnen Pinselstrichen die gelbe Kastanie.
„Ein
Kürbis?“
„Ja
ich bastle einen Märchenwald und dies ist der Kürbis, aus der die
Fee die Kutsche von Aschenputtel zaubert.“
Elsa
deutet auf den Bär, der bereits zwischen den Bäumen steht.
„Das
ist der Prinz, den der böse Zwerg aus Schneeweißchen und Rosenrot,
verzaubert hat.“
Nun
wird der Märchenwald immer schöner.
Aus
Hagebutten, Blättern und Gewürznelken, entstehen Aschenputtel,
Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen.
Die
gute Fee bekommt ein Kleid aus Federn, die Lenerl aus der Schatztruhe
holen darf.
Diese
Federn hatten einst Tante Luises Hut geschmückt, bevor die Katze ihn
in die Pfoten
bekam.
Froschkönig
und den Wolf schnitzt Elsa wieder aus Kastanien und bemalt sie.
Zufrieden
betrachtet sie ihr Werk.
„Nun
fehlen nur noch die sieben Zwerge, suche mir bitte sieben gleich
große Tannenzapfen.“
Lenerl
kramt im Korb und holt sieben Zapfen heraus.
Ein
ganz kleiner Zapfen liegt ganz versteckt zwischen dem Moos und es ist
Lenerl als hört sie ihn flüstern. "Nimm mich auch mit."
Vorsichtig
hebt sie ihn heraus und reicht ihn ihrer Schwester.
„Der
ist viel zu klein, wirf ihn wieder in den Korb!“
„Darf
ich ihn behalten?“
Ihre
Schwester lächelt gutmütig und mit flinken Fingern bemalt sie den
Kümmerling und reicht ihn ihrer Schwester.
„Danke
!“ Glücklich drückt Lenerl das Zwergerl an sich.
Und
als sie abends ins Bett geht darf er auf ihrem Nachtisch stehen.
Lenerl
erwacht mitten in einer blühenden Wiese. Bienen um schwirren summend
die Blumen. Schmetterling gaukeln durch die Luft und ein Heuhüpfer
landet direkt auf ihrer Nase.
Lenerl
muss niesen und der kleine grüne Kerl landet im Gras und hüpft in
großen Sprüngen davon.
Das
Mädchen setzt sich auf und erblickt einen Zwerg, der sie vergnügt
angrinst.
„Wer
bist du denn du?“
„Kennst
du mich nicht mehr, ich bin der kleine Zwerg, den deine Schwester dir
gebastelt hat.“
„Und
wo sind wir hier?“
Der
Zwerg deutet auf den Wald gegenüber.
„Das
ist der Märchenwald, wollen wir ihn uns ansehen?“
Lenerl
nickt eifrig und sie laufen in den Wald. Stille umgibt sie, nur ab
und zu raschelt es, wenn ein kleines Tier durch die Büsche läuft.
Plötzlich
ist ein lautes Brummen zu hören und ein großer Bär taucht zwischen
den Bäumen auf.
Das
Mädchen hat keine Angst, weiß sie doch, dass es der verzauberte
Prinz ist.
Der
kleine Zwerg, der sich hinter ihr versteckt hat, zupft sie am Kleid
und flüstert.
„Komm
lass uns weitergehen, der Bär hat nämlich Zwerge zum Fressen gern.“
Lachend
winkt Lenerl dem Bär und folgt dem Kleinen.
Sie
kommen an einen Teich, in dessen Mitte auf einem Seerosenblatt ein
dicker Frosch mit einer goldenen Krone sitzt,
„Schönes
Fräulein,“ ruft er,“kommt näher, wollt ihr mich küssen!“
Lernel
winkt ab.
„Da
müsst ihr schon warten, bis die Prinzessin mit
dem
goldenen Ball kommt.“
Als
sie weiter gehen kommen ihnen zwei Kinder entgegen.
„Wir
haben großen Hunger, habt ihr was zu Essen für uns.“
Bedauernd
schüttelt Lenerl den Kopf.
„Komm
Gretel, ich habe gehört hier gibt es irgendwo ein Lebkuchenhaus.“
„Ja Hänsel.“
Hand
in Hand laufen die Geschwister weiter.
Auch
Lenerl und ihr kleiner Begleiter wandern weiter.
Es
raschelt und seine spitze Nase voran schiebt sich ein großer grauer
Wolf durch das Gebüsch.
„Hallo,
kleines Mädchen, wohin des Weges?“
Er
kommt näher, die Lefzen heben sich und große spitze Zähne sind zu
sehen.
Ängstlich
weichen Lenerl und der kleine Zwerg zurück.
Der
Wolf kommt immer näher.
Eine
goldene Sonnenkugel erscheint zwischen den Bäumen und eine
wunderschöne Fee steht zwischen dem Wolf und Lenerl.
„Das
ist nicht Rotkäppchen, lass sie in Ruhe!“ sagt sie streng
„Weiß
ich, aber ein zarter Leckerbissen.“
„Soll
ich den Jäger rufen?“
„Spielverderberin!“
Der
Wolf dreht sich um und verschwindet im Gebüsch.
„Danke
liebe Fee.“
Diese
lächelt.
„Nun
lebt wohl, ich muss zu Aschenputtel und ihr beim Ankleiden für den
Ball heute Nacht helfen.“
Sie
verwandelt sich wieder in den Sonnenball und schwebt durch die Bäume
davon.
Auch
die Beiden wandern weiter.
Eine
wunderschöne junge Frau mit pechschwarzem Haar steht vor einem
Häuschen, die Hand über den
Augen,
als würde sie nach jemanden Ausschau halten.
Lächelnd
grüßt sie und fragt:
„Seid
ihr unterwegs sieben Zwergen begegnet?“
Nein,
sind wir nicht,“ meint Lenerl.
„Das
sie doch nie pünktlich sein können, das Essen ist längst fertig.“
Kopfschüttelnd
kehrt sie in das Haus zurück.
Lenerl
und der kleine Zwerg sehen sich an und kichern.
Nebel
steigt auf einmal auf, wird immer dichter und ein lauter
durchdringender Wutschrei ertönt.
Ein
wilder Wind fährt durch den Wald und wirbelt Sand und Blätter auf.
Lenerl
und der Zwerg drängen sich erschrocken aneinander.
„Kommt
mit, die gute Fee schickt mich, ich soll euch in meine Höhle
mitnehmen.“
Ein
Eichkätzchen taucht aus der Nebelwand auf, dreht sich um läuft los,
die beiden folgen ihm bis zu einem großen Baum.
Das
putzige Tier springt auf den Stamm und saust nach oben. Der kleine
Zwerg kann sich gerade noch an ihren buschigen Schwanz festklammern.
Lenerl
aber bleibt unten stehen und sieht ängstlich nach oben.
Der
kleine Zwerg dreht sich um und ruft.
„Beeile
dich, du musst den Baum heraufklettern.“
„Ich
habe Angst!“
„Du
darfst bloß nicht nach unten schauen, dann geht es schon!“
Zitternd
vor Angst steht das Mädchen da.
Hinter
sich hört sie es ächzen und stöhnen und als sie sich umblickt,
sieht sie wie der Boden des Waldes sich erhebt und wellenartig auf
sie zukommt.
Mit
einem Quietschen springt sie hoch und fasst den ersten Ast und dann
klettert sie flink wie ein Eichkätzchen den Stamm entlang. Der
kleine Zwerg streckt ihr die Hand entgegen und hilft ihr in die
Baumhöhle.
Nachdem
sie sich beruhigt hat fragt sie erstaunt ihre Gastgeberin.
„Was
ist denn das?“
Das
Eichkätzchen winkt lässig mit der Pfote.
„Die
dreizehnte Fee aus Dornröschen hat wieder mal einen ihrer
Wutanfälle.“
„Ganz
schön heftig,“ brummt der kleine Zwerg.
„Dauern
dies Anfälle lange?“ will Lenerl wissen.
„Nein!“
Schweigend
sehen sie nun der aufgebrachten Natur zu.
Dann
wird es still, der gewölbte Boden streckt sich, die abgerissen
Blätter wirbeln zurück an die Bäume.
„Es
ist vorbei, wir können wieder hinunter.“
Das
Eichkätzchen verlässt seinen Bau und rast den Stamm hinunter. Der
kleine Zwerge hat Mühe sich an ihrem Schwanz festzuhalten.
Lenerl
atmet tief durch und macht sich an den Abstieg.
„Lenerl,
aufstehen, du musst in die Schule.“
Verwirrt
blickt das Mädchen in die lachenden Augen ihrer Mutter.
Nach
dem Frühstück geht Lenerl zur Schule. Doch je näher sie dem
Schulhaus kommt , umso langsamer wird sie.
In
der ersten Stunde hatten sie Sport und die anderen würden sie wieder
auslachen, weil sie sich
nicht
auf die Kletterwand traute.
Ihre
Brotzeittasche klappert und der kleine Zwerg sieht sie an.
„Wer
vor der bösen Fee schnell wie ein Wiesel auf einen großen Baum
geklettert ist, der wird doch vor so einer kleinen Kletterwand keine
Angst haben.“
Lenerl
strahlt: „Du hast Recht!“
©
Lore Platz 25.09.2019