Sind es nicht immer die Kinder, die unter den Problemen der Erwachsenen leiden müssen.
Alex und Christel wollen sich scheiden lassen
Das kleine Mädchen kuschelte sich in ihr Bett, den Teddy fest an sich gedrückt und schloss die Augen, als könnte sie so die laut schreienden Stimmen im Erdgeschoss ausblenden.
Leise öffnete sich die Tür und ihr Zwillingsbruder huschte ins Zimmer.
„Hörst du sie wieder streiten, Morgen machen wir es, bist du einverstanden?“
„Ja,“ wisperte seine Schwester.
„Dann versuch noch etwas zu schlafen.“
Als der Chauffeur Anton die Zwillinge von der Schule abholt hat, wandte sich Alex noch einmal zu ihm um.
„Wir möchten nach dem Essen jemanden besuchen, hast du Zeit?“
Anton tippte sich an die Mütze, die er immer etwas schräg aufgesetzt hatte.
„Sicher , kommt einfach in die Garage.“
Die Kinder liefen in die Küche, wo Jette gerade in eine weinrote Wärmflasche heißes Wasser goss.
„Holt euch das Essen, eure Mutter ist krank.“
Schweigend aßen die Kinder den leckeren Auflauf, dann liefen sie auf ihre Zimmer und zogen ihre besten Sonntagskleider an.
Anton setzte sie vor dem Haus, dessen Adresse auf dem Zettel, den Alex ihm beim Einsteigen gereicht hatte, ab.
„Wann soll ich euch wieder abholen?“
„Wir rufen dich an,“ sagte Alex und folgte seiner Schwester Christel.
Schweigend fuhren sie mit dem Lift in den dritten Stock und klingelten an der Tür, auf der stand: Rechtsanwalt Dr. Oliver Reinhold.
Ein junges Mädchen öffnete und sah etwas erstaunt die Kinder an.
„Ihr habt euch wohl an der Tür geirrt?“
„Nein wir wollen zu Dr. Reinhold.“
„Na dann kommt herein!“
Der junge Anwalt sah erstaunt auf, als seine Sekretärin die beiden hereinschob.
„Herr Doktor, die Dame und der Herr möchten sie sprechen, „ schmunzelnd schloss sie die Tür hinter den Kindern.
„ Nun, dann nehmt Platz.“
Alex verbeugte sich und stellte sich vor.
„Ich bin Alexander Weidner und das ist meine Zwillingsschwester Christel.“
Christel knickste und setzte sich neben ihren Bruder in den großen Lehnstuhl.
„Seit ihr verwandt mit dem Schuhfabrikanten Weidner.“
„Das ist unser Papa!“ rief das Mädchen.
„Und warum seid ihr jetzt bei mir?“
„Wir wollen uns scheiden lassen!“ erklärte Alex mit ernstem Gesicht.
Oliver Reinhold zog die Brauen hoch.
„Ihr wisst schon, dass Zwillinge sich nicht scheiden lassen.“
„du Dummchen, das wissen wir,“ rief Christel kopfschüttelnd.
„Ach dann wollen sich eure Eltern scheiden lassen. Da müssen diese aber selbst vorbei kommen.“
Alex machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Die können ruhig zusammen bleiben und weiter Radau machen, nein wir möchten uns von unseren Eltern scheiden lassen.“
Um den Mund des Anwalt zuckte es und er fragte.
„Woher habt ihr eigentlich meine Adresse?“
„Von meinem Freund Kai, wir gehen in dieselbe Klasse und er hat gesagt, sein Onkel Oliver ist der beste Anwalt.“
„Nun, das große Vertrauen meines Neffen freut mich,“ lachte der junge Mann.
Dann holt er ein Formular und einen Stift.
„Dann wollen wir mal ein Protokoll anlegen und ihr erzählt mir, warum ihr euch von euren Eltern scheiden lassen wollt.“
„Halt!“ rief Christel, lief zum Schreibtisch und schüttete ihre Tasche aus. Silberne Eurostücke kullerten, gefolgt von Geldscheinen auf den Tisch.
„Der alte Xaver hat nämlich gesagt, ein Anwalt will erst Geld sehen, bevor er einen Buchstaben schreibt.“
Oliver lachte laut, doch als er die erstaunten Gesichter der Kinder sah, wandelte er das Lachen in einen Husten um. Das hatte zur Folge, dass Alex aufsprang und ihm kräftig auf den Rücken schlug.
Oliver hob beide Hände und japste
„Danke es geht schon wieder.“ Er drückte auf die Taste der Sprechanlage und bat seine Sekretärin herein.
„Heike würden sie bitte das Geld einsammeln und mir eine Quittung darüber ausstellen!“
Christel sprang auf und reichte ihr die Tasche.
„Sie können es da rein tun, aber die Tasche möchte ich gerne wiederhaben, das ist nämlich mein Sonntagstäschchen.“
Die junge Frau konnte sich kaum das Lachen verbeißen, sie wurde ganz rot im Gesicht, raffte schnell das Geld zusammen und lief fast aus dem Zimmer.
Stirnrunzelnd sah Alex ihr nach.
„Die wird doch nicht mit unserem Geld durchbrennen?“
„Keine Sorge ihr könnt ihr vertrauen, aber nun erzählt mir doch warum ihr euch von euren Eltern scheiden lassen wollt.“
Während des Berichts der Kinder wurde der Anwalt immer ernster.
Sie erzählten, dass ihre Eltern seit Wochen nur noch stritten. Sobald der Vater aus der Arbeit nach Hause kam, brüllten sie schon los, schlugen die Türen und ihre Mutter weinte.
Angefangen hatte es kurz nach Weihnachten, da hatte ihre Mama nämlich die neue Sekretärin bei der Firmenfeier kennen gelernt und seitdem war sie eifersüchtig.
Tagsüber verkroch ihre Mutter sich in ihrem Zimmer und der Vater kam mittags auch nicht mehr von der Fabrik nach Hause, sondern immer spät abends.
Um sie kümmerten sie sich überhaupt nicht mehr.
„Als wären wir unsichtbar!“ empörte sich Alex und Christel nickte.
Oliver Reinhold hatte sich alles notiert.
„ Ihr könnt doch schon schreiben?“
„Natürlich, wir gehen doch schon in die zweite Klasse.“
„Dann unterschreibt bitte hier das Protokoll, darin habe ich alles aufgeschrieben, was ihr mir erzählt habt. Durch eure Unterschrift gebt ihr mir die Erlaubnis, dass ich für euch handeln kann. Macht euch keine Sorgen, es wird alles gut.“
Die Kinder unterschrieben und reichten dem Anwalt beim Abschied vertrauensvoll die Hand.
„Kai hat recht,“ bestätigte Alex, „ sie sind der beste Anwalt.
Als die Kinder gegangen waren, griff Oliver zum Telefon.
Pünktlich um zehn Uhr vormittags stand Oliver Reinhold vor der Tür der Villa Weidner und drückte auf den Klingelknopf.
Er hatte extra am Vormittag einen Termin mit dem Ehepaar verabredet, denn da waren die Kinder in der Schule.
Jette ließ ihn ein und führte ihn ins Wohnzimmer.
Als er sich gesetzt hatte, meinte Oliver.
„Sie wundern sich sicher, warum ich sie aufsuche, nun ich komme im Auftrag ihrer Kinder. Sie haben zwei wunderbare, kluge und aufgeweckte Kinder und eigentlich haben sie diese gar nicht verdient.“
„Hören sie mal,“ rief Franz Weidner empört.
Oliver warf ihm und seiner Frau einen finsteren Blick zu.
„Ihre Kinder waren gestern bei mir, weil sie sich von ihnen trennen wollen. Der wochenlange lautstarke Streit geht den Kindern auf die Nerven. Außerdem sind sie beide so mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dass sie sich um ihre Kinder überhaupt nicht mehr kümmern. Wie ihr Sohn Alex so treffende meinte: Wir sind unsichtbar für sie. Hier liegt die Anklageschrift .“
Der Anwalt lehnte sich zurück und beobachtete wie das junge Ehepaar bei den Worten, die sie lasen, immer blasser wurde.
Andrea Weidner schlug die Hände vors Gesicht.
„Es ist alles meine Schuld,“ flüsterte sie.
Ihr Mann legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern.
„Nein, auch ich bin schuld, ich habe in letzter Zeit mich zu viel in die Arbeit gestürzt, weil ich unbedingt den Überseeauftrag an Land ziehen wollte. Dabei habe ich meine Familie vernachlässigt.“
Andrea seufzte. „ seit die Kinder in die Schule gehen und mich nicht mehr so brauchen, fühle ich mich manchmal unnütz, langweile mich und habe viel zu viel Zeit auf dumme Gedanken zu kommen.“
„Es ist also Zeit etwas zu ändern,“ schlug Oliver vor.
„Welchen Beruf hatten sie denn vor ihrer Ehe?“
„Ich war Dolmetscherin, spreche fünf Sprachen.“
„Haben sie denn in ihrer Firma keine Verwendung für ihre Frau?“
„Und ob, da ich mit verschiedenen ausländischen Firmen bereits in Kontakt stehe, wäre das ideal.“
Der junge Anwalt lachte vergnügt.
„Das ist doch schon mal ein Anfang. Aber vergessen sie ihre Kinder nicht,besonders wenn sie beide berufstätig sind. Sie brauchen eine Familie und eine Köchin, die sie versorgt und ein Chauffeur, der sie herum fährt, sind kein Ersatz dafür.
Sie sollten die Abende und auch die Wochenenden unbedingt für ihre Kinder freihalten. Und vielleicht wäre es auch gut eine Kinderfrau einzustellen.“
Herr Weidner war einen Blick auf seine Frau.
„ Weißt du Andrea, wir haben ja die letzten Wochen kein vernünftiges Wort miteinander gewechselt, deshalb konnte ich dir auch nicht sagen, was Mama mir an Weihnachten anvertraut hat. Seit Papas Tod fühlt sie sich so einsam und sie würde so gerne ihre Enkelkinder öfter sehen.“
Jubelnd fiel die junge Frau ihrem Mann um den Hals.
„Das ist doch die Lösung, wir haben doch soviel Platz hier, die Kinder lieben ihre Oma und wir wären beruhigt, wenn wir mal auf Geschäftsreise gehen müssen.“
Oliver Reinhold erhob sich. „Dann ist ja alles geklärt, ich wünschen ihnen viel Glück für die Zukunft.“
Er holte aus seiner Tasche zwei Sparschweine heraus.
„Ihre Kinder haben ihre Sparschweine geschlachtet, deshalb habe ich mir erlaubt zwei neue zu kaufen und das Geld aufgeteilt, denn von Freunden meines Neffen nehme ich kein Honorar.“
Als der Anwalt das Haus verließ, spielte ein glückliches Lächeln um seinen Mund.
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Lore Platz (2020)