Nicht standesgemäß
Elena
betritt neben Direktor Zimmermann das Klassenzimmer und sieht sich
zweiundzwanzig erwartungsvollen Gesichtern gegenüber.
„Fräulein
Hartleitner, das ist ihre neue Schülerin Elena von Straten. Ihre
Eltern haben das Gut Waldblick übernommen und den dazu gehörigen
Ponyhof.“
Freundlich
nickt die Lehrerin dem Mädchen zu, trotzdem war sie Elena nicht sehr
sympathisch.
Sie
setzt sich auf den ihr angewiesenen Platz und packt ihre Schultasche
aus.
Die
Tür wird leise geöffnet und ein Mädchen drückte sich herein.
„Entschuldigung,“
murmelt sie und hastet in die hinterste Bank.
„Das
ist Bärbel, sie ist strohdoof und außerdem hässlich angezogen.“
flüstert Rita Elena zu.
Diese betrachtet unauffällig das Mädchen, dessen Kleider
geflickt sind, und deren Haare unordentlich aus den Zöpfen hängen.
Direktor
Zimmermann hat inzwischen das Zimmer verlassen und der Unterricht
beginnt.
Elena
beobachtet, dass die Lehrerin das Mädchen in der letzten Bank
vollkommen ignoriert und in der Pause wird sie
von den anderen Kindern gehänselt.
Elena
gefällt das gar nicht und sie fragt Rita „ was hat euch das
Mädchen denn getan?“
„Ach,“
meint diese schnippisch, „ schau sie dir doch an wie hässlich sie
angezogen ist, bestimmt hat sie auch Läuse, außerdem wohnt sie in
einer ärmlichen Hütte mit ihrer Oma und mein Opa, der ja
Bürgermeister ist, hat gesagt, die beiden sind der Schandfleck in
unserem schönen Dorf.“
Elena
runzelt die Stirn und nimmt sich fest vor zu Bärbel besonders nett
zu sein.
Doch
das war nicht so einfach, denn Bärbel lässt niemand an sich heran
und so gibt Elena allmählich auf.
Nach
einigen Wochen hat Elena sich eingewöhnt und viele Freunde gefunden.
Jeder möchte ihre Freundin sein, war sie doch die Tochter des
reichen Gutsbesitzer und die Kinder durften auf den Ponys reiten,
wenn sie Elena besuchten.
Bärbel
kam jeden Morgen zu spät und huschte schnell auf ihren Platz von
niemand beachtet. Die Kinder hänselten sie auch nicht mehr, hatten
sie doch schnell gemerkt, dass das Elena gar nicht gefiel und mit
dieser wollte es sich keiner verderben.
Und
die Lehrerin kümmerte sich überhaupt nicht um das Mädchen. Bärbel
wurde niemals aufgerufen und selbst ihre Hausaufgaben wurden nicht
eingesammelt.
Als
wäre sie überhaupt nicht anwesend.
Manchmal
warf Elena einen heimlichen Blick nach hinten und sah, dass das
Mädchen sehr aufmerksam verfolgte was vorne geschah. Wenn ihre
Blicke sich trafen sah Bärbel scheu weg und spielte mit ihrem
Bleistift.
Elena
war gerade von der Schule nach Hause gekommen und lief in die Küche,
wo Martha, die Köchin ihr lächelnd das Essen servierte und
erzählte, dass ihre Mutter in die Stadt gefahren war und ihr Vater
eine Besprechung mit dem Bürgermeister hatte.
Martha
sah dabei sehr grimmig aus und Elena fragte sie
was
denn los sei.
„Ach
den Bürgermeister hier kann ich gar nicht leiden, so ein Unmensch,
will das arme Weiblein und ihre Enkelin aus dem Haus werfen. Sind ein
Schandfleck für das Dorf behauptet er.“
„Was
will er denn von Papa?“
„Der
Wald gehört doch zu dem Gut und das alte Häuschen ist nur
gemietet. Also soll der Herr seine Macht als Vermieter demonstrieren
und ihnen kündigen.“
„Das
wird doch Papa nicht machen!“ rief Elena erschrocken.
Als
der Bürgermeister abgefahren war, schlüpfte Elena in das
Arbeitszimmer ihres Vaters.
Lächelnd
sah Herr von Straten sein Töchterlein an. „Was hast du denn auf
dem Herzen?“
„Papa,
du willst doch nicht Bärbel und ihre Oma aus dem Haus werfen?“
„Kennst
du sie denn?“
„Ja,
Bärbel geht mit mir in dieselbe Klasse.“ Und dann erzählt sie
ihrem Papa, was ihr aufgefallen war und wie die Lehrerin und auch die
Kinder mit dem armen Mädchen umgehen.
Ihr
Vater nickte nachdenklich.
„ Die
Menschen vergessen viel zu schnell, wenn es ihnen gut gut, dass nicht
jeder soviel Glück hat.“
„Aber
hast du nicht immer gesagt, wir sollen dankbar sein, dass es uns so
gut geht und die nicht vergessen, denen es nicht so gut geht.“
„Ja,
meine Kleine und daran wollen wir uns auch halten, habe keine Angst
um deine Freundin.“
Elena
widerspricht nicht, denn eigentlich wollte sie gerne mit Bärbel
befreundet sein.
Im
Stall trifft sie auf Justus, den Stallmeister, der an seiner alten
Pfeife kaut. Er wollte sich nämlich das Rauchen abgewöhnen,
aber von seiner geliebten Pfeife konnte er sich
nicht trennen.
„Na
Prinzessin willst wohl ausreiten, Triumph muss bewegt werden.“
Elena
ging an die Box, holte aus ihrer Hosentasche ein Stück Zucker und
hielt es auf der flachen Hand dem weißen Pony hin.
Bald
trabten die beiden über den Hof, begleitet von Gina dem schwarzweiß
gefleckten Mischling.
Der
Hund umsprang sie freudig bellend, dann spitzte er plötzlich die
Ohren und sauste los und verschwand im Wald.
Ärgerlich
rief Elena den Hund,natürlich hörte er nicht, sicher hatte er
wieder ein Kaninchen aufgestöbert.
Das
Mädchen band das Pony an einen Baum und folgte dem Hund in den Wald.
Sie
hörte ein komisches Geräusch, das konnte nur Gina sein.
Als
sie den seltsamen Lauten folgte, sah sie Bärbel, die auf einem
Baumstamm saß, Tränenspuren auf dem Gesicht, und mit offenen Mund
Gina betrachtete.
Die
Hündin hatte die Schnauze nach oben gerichtet und heulte Herz
erweichend.
Als
Bärbel Elena sah wollte sie aufspringen, doch dann fiel ihr Blick
wieder auf den Hund und sie prustete los.
Elena
ließ sich neben ihr auf dem Baumstamm nieder und auch sie konnte
sich nicht mehr halten.
„Weißt
du, Gina ist ein besonders mitfühlender Hund, wenn sie jemand weinen
sieht, weint sie gleich mit.
Wieder
prusteten sie los und der Hund, der die Beiden lachen sah, drängte
sich schwanzwedelnd zwischen sie.
Die
Mädchen streichelten den Hund.
„Warum
hast du geweint?“
Bärbel
wurde rot und wandte das Gesicht ab.
Elena
ergriff ihre Hand.
„Du
brauchst keine Angst haben, mein Vater hat nicht vor euch zu
vertreiben, auch wenn der Bürgermeister es so will.“
„ Er
war gestern bei meiner Oma und hat ihr angedroht, dass der neue
Besitzer uns rausschmeißen wird. Wir sind der Schandfleck des
Dorfes. Aber meine Oma hat doch nur eine kleine Rente. Außerdem hat
sie Arthritis und kann nicht mehr so arbeiten. Ich helfe ihr so gut
ich kann, deshalb komme ich auch morgens immer zu spät in die
Schule. Eigentlich will ich gar nicht mehr in die Schule gehen. Frau
Hartleitner will sowieso nichts mit mir zu tun haben, sie mag nur die
reichen Kinder.“
Elan
umarmte Bärbel spontan. „ Ich mag dich und wäre so gerne deine
Freundin.“
In
diesem Moment entstand eine Freundschaft fürs Leben und für Bärbel
und ihre Oma begann eine Zeit des Glücks.
Herr
von Straten hatte auf seinem Besitz ein kleines unbewohntes Häuschen,
das es herrichten ließ und in dem Bärbel und ihre Oma in Zukunft
leben konnten.
Zuerst
aber schickte er die alte Frau in ein Heilbad zur Erholung und
während dieser Zeit durfte Bärbel bei Elena wohnen.
Martha,
die Köchin verwöhnte das arme Mädchen mit Leckerbissen und Elenas
Mutter sorgte für passende Kleider.
Elena
und Bärbel aber waren unzertrennlich und mit Elenas Hilfe wurden
auch deren Leistungen in der Schule besser.
Nichts
erinnerte mehr an das zerlumpte Kind, das der Außenseiter in der
Schule war.
Anfangs
zögernd aber dann wurde Bärbel in die Klassengemeinschaft
aufgenommen.
©
Lore Platz
/https://sommergeschichten.wordpress.com/2020/07/03/begegnung-unterm-apfelbaum/