Montag, 4. November 2024

Meine große Schwester Karin



 
 Ihr Eintritt in die Welt stand unter keinem guten Stern.
Sie kam im Mai 1945 zur Welt und schrie Tag und Nacht vor Hunger, da meine Mutter zu wenig Milch hatte und in ihrer Unerfahrenheit dies nicht gewusst hat.



 
 
 

Meine Schwester Karin liebte mich und hat mich zeitlebens beschützt, obwohl ich ihr bei unserer ersten Begegnung einen Heidenschreck einjagte.


Als ich am 13. Dezember 1949 geboren wurde befand sich meine Schwester im Krankenhaus.
Sie hatte Scharlach und lag allein in einem isolierten Zimmer und meine Eltern durften sie nur durch eine Scheibe sehen.
Dass meine Mutter schwanger war wusste sie nicht.
Damals waren die Kinder noch nicht so aufgeklärt wie heute, wenn man ein Geschwisterchen haben wollte musste man ein Stück Würfelzucker auf die Fensterbank legen für den Storch.
Als meine jüngste Schwester geboren wurde und meine Mutter im Krankenhaus lag, erzählte man mir, der Storch hätte sie ins Bein gebissen.
Ich weiß noch wie wütend ich wurde, als mein kleiner Spielkamerad ganz aufgeregt zu mir sagte, es stimme gar nicht, dass der Storch die Kinder bringt, sondern dass sie aus der Mutter heraus kämen.
Ich schimpfte ihn einen Lügner, habe ihn stehen gelassen und mehrere Tage nicht mehr mit ihm gesprochen.
Aber ich wollte euch ja vom ersten Zusammentreffen meiner Schwester und mir erzählen.


Karin blieb auch über Weihnachten im Krankenhaus und als sie dann nach Hause kam, feierten meine Eltern für sie den Heiligen Abend nach.
Karin ging also mit strahlenden Augen auf den leuchtenden Baum zu, da begann ich, die etwas versteckt dahinter in einem Wäschekorb lag, zu schreien.
Mein Schwester blieb abrupt stehen, drehte sich um und flüchtet mit einem entsetzten „Mutti“ in deren Arme.
Doch bald hatte sie sich an die lebendige Puppe gewöhnt und entwickelte sofort einen Beschützerinstinkt für mich.
Karin und ich haben niemals miteinander gestritten, weder in der Kindheit noch später.

Dabei muss ich für sie doch ziemlich lästig gewesen sein, denn ich stolperte ihr nach auf Schritt und Tritt.
Immer musste sie auf mich aufpassen und da sie ein richtiger Wildfang war und ich ein überängstliches Häschen, passierte mir oft etwas und sie wurde dann bestraft.
Aber nie hat sie es an mir ausgelassen, sie liebte mich unerschütterlich.
Und ich dankte es ihr mit großer, vielleicht manchmal lästiger Anhänglichkeit.
Wenn sie nach der Bestrafung trotzig, die Tränen unterdrückend, im Kinderzimmer verschwand, lief ich ihr nach umarmte sie und weinte solidarisch mit ihr zusammen.
Karin war kein Baum zu hoch, kein Spiel zu wild, sie verteidigte die Schwachen und wagte sich auch an Buben heran. die einen Kopf größer waren als sie, wenn sie einen Kleineren hänselten.
In ihrer Nähe fühlte ich mich immer sicher.





Später heiratete sie einen Schwaben und zog an den Bodensee.
Sie war ihren beiden Söhnen eine wunderbare Mutter.
Als sie dann mit 48 Jahren unerwartet starb brach eine Welt für mich zusammen.
Ich hatte meinen besten und liebsten Kameraden verloren.
Manchmal tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass sie jetzt als mein Schutzengel weiter lebt.
Und wenn ich in eine ausweglose Situation geriet, dann bat ich Karin um Hilfe und oft kam dann unerwartet eine helfende Hand.
 
In meiner Erinnerung wird sie immer weiter leben.
Wisst ihr was mir bei meinem kramen in den Papieren aufgefallen ist?
Die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben:
Mein Vater, meine Schwester und mein Mann sind alle drei im August verstorben. 
Aber alle drei leben in meinem  Herzen weiter.





5 Kommentare:

  1. Liebe Lore
    Wien ich hier heraus lese hast Du eine aufregende aber doch schöne Kindheit verlebt.
    Lieben Gruß Joachim

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  2. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  3. Die lebende Puppe unter dem Tannenbaum - eine sehr schöne Geschichte. Dich verbindet viel mit deiner Schwester und wenn sie noch leben würde, dann hätte sie jetzt mit dir geschimpft. "Du warst mir nie lästig, kleine Schwester!", würde sie sagen. Und weil sie es nicht mehr kann, mache ich es für sie. LG Martina

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  4. Liebe Lore,
    wie wunderschön und doch so traurig. Schön, dass Du so eine tolle Schwester hattest, die Dich immer beschützt hat und die Du immer noch sehr liebst. Das spürt man. Traurig, weil sie so früh gehen musste. Irgendwie glaube ich, dass sie auch heute noch Dein Schutzengel ist und Dir ihre Liebe dadurch zeigt (Du merkst, ich glaube an Schutzengel).
    Übrigens, das mit dem Storch hat man mir auch erzählt. Mein Würfelzucker auf dem Fensterbrett hat leider nie geholfen, ich bin ein Einzelkind geblieben. Und als mein Cousin auf die Welt kam, erzählte mein Opa mir, dass meine Tante zur Mülltonne ging und dort hat sie der Storch ins Bein gebissen. Schon seltsam, wie lange sich diese Geschichten gehalten haben, denn ich bin erst Mitte 1960 geboren.
    LG
    Astrid

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  5. Liebe Lore,
    Schön, dass du so behütet wurdest von Karin. Bei uns war es umgekehrt. Bei mir brachte der Storch eine kleine Schwester Karin, obwohl ich meinen Papa erwischt habe, wie er den Zucker aus dem Fenster naschte.
    Ich bin 1947 im Osten geboren, also war es auch bei uns der Storch, der Mama gezwickt hatte. Ich konnte keinen richtigen Biss an Mamas Bein finden.LG Monika

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