Dienstag, 2. Juni 2020

Hexe Liliput und das Dorfmädchen










Hexe Liliput und das Dorfmädchen

Die Nacht hat sich verabschiedet und an ihre Stelle ist die Dämmerung ins Land getreten.
Das Dorf unterhalb des Hexenbergs liegt ruhig verschlafen.
Doch in einem Gehöft öffnet sich die Tür und ein junges Mädchen tritt heraus, bindet sich die Schürze, schlüpft in ihre Holzpantoffel und verschwindet im Stall.
Fröhlich begrüßt sie die vier Kühe, die ihr verschlafen entgegenblicken.
Mit flinken Finger melkt sie diese, schüttet die Milch durch den Seiher in die großen Kannen, und füllt den kleinen Rest, den sie zurück behalten hat, in eine alte Emailschüssel.
Nun wird es lebendig im Stall. Die alte Katze Mille kommt aus einer Ecke und ihr drei Jungen purzeln durcheinander im Eifer ja die schnellsten zu sein.
Lächelnd sieht Marianne ihnen zu, wie sie gemeinsam die leckere Milch schlabbern.
Milli kommt zu dem Mädchen und streicht ihr dankbar schnurrend um die Beine.

Zusammen mit Marianne verlassen die Katzen den Stall und die Kleinen tollen über den Hof.
Das Mädchen wäscht sich am Brunnen. In der Küche ist es mollig warm, denn sie hatte den Ofen bereits sauber gemacht und angeheizt bevor sie zum melken ging. Auch das Wasser im Kessel ist inzwischen warm und schnell gießt sie den Tee auf, deckt flink den Tisch, denn sie hört die Tante kommen.
In eine große Pfanne gibt sie Butter, Speckstreifen und Eier und bald zieht ein köstlicher Duft durch die Küche.
Dann stellt sie die Pfanne auf den Tisch. In dem Moment betritt ihre Tante den Raum.
Marianne wünscht „Guten Morgen,“ bekommt aber keine Antwort, nur einen finsteren Blick.
Anna fühlt sich heute nicht wohl, bring ihr das Frühstück ans Bett.“
Schweigend füllt ihre Nichte den Teller und trägt ihn in das Schlafzimmer ihrer Kusine.
Diese rekelt sich im Bett und reißt ihr den Teller aus der Hand und stürzt sich darüber.
' Na die Krankheit hat deinem Appetit ja nicht geschadet' denkt Marianne spöttisch.
Als sie in die Küche kommt ist die Pfanne leer nur ein wenig gelbes Ei schwimmt noch darin.
Das Mädchen setzt sich und tunkt mit dem Brot den spärlichen Rest aus der Pfanne.
Mama ich will Erdbeeren!“ ertönt die quengelige Stimme der Tochter des Hauses.
Die Bäuerin reißt die Pfanne aus den Händen ihrer Nichte und stellt sie in die Spüle, dann eilt sie zu
ihrem Liebling.
Schnell lässt das Mädchen ihr Brot in der Schürzentasche verschwinden, damit ihr dieses nicht auch noch abgenommen wird.
Die Mutter kommt aus dem Zimmer ihrer Tochter.
Mein Täubchen möchte Erdbeeren mit Sahne.“
Aber die Erdbeeren sind doch noch nicht reif und von den grünen bekommt sie nur Bauchweh.“
Aber im Hexenwald sind sie schon reif, das hat die alte Kuni gesehen, als sie neulich an der Grenze vorbei ging. Wenn du deine Arbeit gemacht hast, dann wirst du welche pflücken.“
Marianne wird blass.
Aber wir dürfen doch nicht in den Hexenwald, das ist gefährlich.“ flüstert sie entsetzt.
Geh an deine Arbeit und ein wenig schneller als sonst und anschließend holst du die Erdbeeren.“
Es ist fast Mittag als das Mädchen fertig ist. Voller Angst nimmt sie das Körbchen und macht sich auf den Weg zum Hexenwald.
An der Grenze bleibt sie zögernd stehen und auch die herrliche Aussicht auf den schönen Wald und die trutzige Burg dahinter kann ihr die Beklemmung nicht nehmen.
Tief atmet sie durch und überschreitet die Grenze.
Vor ihr breiten sich rote Erdbeeren aus und schnell beginnt sie mit dem Pflücken.
Bei jedem Rascheln zuckt sie zusammen und schaut sich ängstlich um.
Liliput die wieder einmal an die Grenze gekommen ist, weil sie unbedingt einen Menschen sehen will, kauert hinter einem Busch und beobachtet sie.

Ihr Herz klopft vor Aufregung.
Das ist also ein Mensch, nett sieht sie aus, nur sehr verängstigt und irgendwie auch traurig. Nun hat sie ihr Körbchen voll, lässt sich ins Gras fallen, schlägt die Hände vors Gesicht und fängt bitterlich zu weinen an.
Mitleidig verlässt Liliput ihr Versteck, setzt sich neben das Mädchen und streicht ihr tröstend über das Haar.Erschrocken nimmt diese die Hände vom Gesicht und weicht entsetzt zurück.
Die Hexe lacht sie fröhlich an. „ Du musst keine Angst haben, ich will dir nichts tun.“
Marianne betrachtet die kleine Gestalt mit den wirren roten Haaren und den vergnügt blitzenden Augen.
Nein, zum Fürchten sah sie nicht aus.
Sie streckt die Hand aus und als Liliput zögernd auch ihre Hand ausstreckt, drückt sie diese und meint:
Ich bin Marianne .“
Liliput kichert. „Begrüßen sich die Menschen so, ich heiße Liliput, eigentlich ja Honorine Herminus, aber weil ich so klein bin, haben mich meine Eltern Liliput gerufen. 
Leider sind sie schon lange Tod.“
Meine Eltern auch und seitdem wohne ich bei meiner Tante.“ 
Wieder wird ihr Gesicht traurig.
Willst du mir nicht von deinem Kummer erzählen?“
Und nun erzählt ihr Marianne wie sie nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer Tante kam, die sie schlechter behandelt als eine Magd . Und während sie ihrer neuen Freundin alles berichtet, spürt sie wie es ihr ganz leicht ums Herz wird.

Denn wer niemals von seinem Kummer spricht, dem eines Tages das Herze bricht.
Ein grummeliges Geräusch lässt Liliput zusammen zucken.
Was war das?“
Ihre Freundin wird rot. „Das war mein Magen.“
Was hast du heute gegessen?“
Ein Stück trockenes Brot heute Morgen.“
Liliput schüttelt ärgerlich den Kopf, murmelt einige Worte und vor Marianne liegt ein weißes Tischtuch voller Leckereien.
Mit strahlenden Augen lässt sich das Mädchen die Köstlichkeiten schmecken.



Liliput betrachtet nachdenklich die Erdbeeren.
Dann lacht sie.
Weißt du was, ich werde die Erdbeeren verzaubern und wenn deine böse Kusine sie isst, werden ihr eine lange Nase und Ohren wachsen.“
Und du wirst deine Zauberkraft verlieren.“
Marianne sieht erstaunt auf die Schildkröte, die ihren Kopf aus der Tasche von Liliputs Tasche steckt.
Eine sprechende Schildkröte?“
Die Hexe lacht.
Das ist Tinchen. Wenn eine Hexe geboren wird, dann schenken ihr ihre Eltern ein Tier, das sie ein Leben lang begleitet.“
Guten Tag, Tinchen.“
Guten Tag Marianne, aber glaube ja nicht, dass es immer Spaß macht diesen Ungestüm zu begleiten.“
Ach Tinchen,“ lacht das Mädchen, „Liliput ist doch so lieb.“
Danke,“ grinst die Freundin.

Aber Tinchen hat Recht, wir dürfen keine Lebewesen verzaubern, sonst nimmt man uns die Zauberkraft. Aber witzig wäre es doch.“
Die beiden Mädchen kichern und Tinchen zieht sich kopfschüttelnd in ihren Panzer zurück.
Mit einem Blick auf das Körbchen meint Liliput.
Aber ich werde die Beeren besonders süß und lecker zaubern.“
Marianne verzieht unwillig das Gesicht.
Das muss aber auch nicht sein.“
Doch, denn wenn deiner grässlichen Kusine diese schmecken, dann wird dich deine Tante morgen wieder herauf schicken und wir können uns treffen.“
Eine gute Idee!“
Die Kirchturmglocke schlägt laut und dröhnend.
So spät schon, ich muss gehen.“
Die beiden Mädchen umarmen sich und Liliput murmelt.
Da ich jetzt deine Freundin bin, sollst du nie wieder hungern. Jeden Tag wenn du nach der Arbeit in dein Zimmer gehst, wirst du dort etwas zu Essen finden.“
Danke!“
Ein Winken und Marianne läuft den Abhang hinunter und kommt atemlos in die Küche, wo sie schimpfend empfangen wird.
Schnell wäscht sie die Erdbeeren und reicht sie mit geschlagener Sahne ihrer Kusine, die sich sofort gierig darüber hermacht.
Hmmm, Mama ich habe noch nie so gute Erdbeeren gegessen, Marianne muss morgen wieder in den Hexenwald.“
Du hast es gehört und nun mach dich an deine
Arbeit!“
Heimlich grinsend verlässt das Mädchen die Küche und da sie heute satt und glücklich ist, geht ihr die Arbeit doppelt so schnell von der Hand.
Und als sie spät abends in ihr Zimmer geht, erwartet sie ein reichlich gedeckter Tisch, der verschwindet sobald sie satt ist.
Selig schlüpft sie ins Bett, denn sie weiß, nun ist sie nicht mehr allein.


© Lore Platz



Wer den ersten Teil von Liliput lesen möchte

Kleine Hexe Liliput