Freitag, 18. September 2020

Auf Umwegen zum Glück

 

 
 
 
 
Auf Umwegen zum Glück



Charlotte schloss das Buch und legte die Lesebrille zur Seite. Ach, was war das wieder für eine herrliche Geschichte gewesen. Gedankenverloren sah sie aus dem Fenster. Es gefiel ihr, immer wenn eine Geschichte zu Ende war, diese noch weiterzuspinnen.
Das Mädchen, um das es in diesem Buch ging, hatte seine Eltern verloren und eine schlimme Zeit durchgemacht. Dann war sie aber bei einer Tante gelandet, die sich rührend um sie gekümmert hatte und irgendwann auch Zugang zu ihrem Inneren gefunden hatte. 
Charlotte lächelte, vielleicht gefiel ihr das Buch auch deshalb so gut, weil es Parallelen zu ihrem eigenen Leben aufwies. Auch sie hatte früh ihre Eltern verloren und wurde in der Verwandtschaft herumgereicht, weil niemand sie haben wollte. Bis sie zu Tante Agnes kam.
Damals hatte Charlotte das Vertrauen und die Hoffnung verloren. War sie doch gerade erst zehn Jahre alt, als die Eltern starben. Das tat so weh und sie hatte niemanden, der ihre Trauer ernst genommen hatte. Erst Tante Agnes hatte mir ihr darüber gesprochen, behutsam hatte sie sich vorgetastet und es hatte gar nicht lange gedauert, bis Charlotte erkannt hatte, dass Tante Agnes es gut mit ihr meinte. 
Und dann begann eine schöne Zeit für das Mädchen. Sie lächelte bei dem Gedanken an die kleine quirlige Person, die voller Energie war und mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielt und deshalb bei der Verwandtschaft nicht so beliebt war. 
Von Tante Agnes hatte Charlotte auch die Liebe zu den Büchern bekommen. Jeden Abend saßen sie gemütlich beisammen und lasen. Anschließend tauschten sie ihre Gedanken zu den Geschichten aus.  
Das waren die schönsten Stunden für Charlotte. Sie lernte nicht nur die Bücher zu lieben, sondern auch viele Lebensweisheiten, die Tante Agnes, ohne dass Charlotte es bemerkte, in die Seele des jungen Mädchens pflanzte.
Während ihrer Jahre als Lehrerin hatte Charlotte vieles davon an die Kinder weitergeben können. Jetzt war sie im Ruhestand und da sie nie geheiratet hatte, fühlte sie sich manchmal einsam. Gern hätte sie noch eine Aufgabe gehabt, bei der sie Kontakt zu anderen Menschen gehabt hätte.
Plötzlich war ihr, als höre sie die Stimme ihrer Tante.
Kind, du musst selbst dafür sorgen, dass du eine Aufgabe hast. Geh in die Schulen oder Altenheime. Schreib deine Geschichten auf und erzähl sie weiter!"
Verwirrt wischte sich Charlotte über die Augen. Fing sie nun an zu fantasieren und hörte gar Stimmen? 
Doch je länger sie nachdachte, umso mehr freundete sie sich mit dem Gedanken an. Ein bewegtes Leben lag hinter ihr und dies aufzuschreiben würde ihr nicht nur helfen die Vergangenheit zu bewältigen, sie könnte auch anderen damit helfen mit dem Wissen niemals aufzugeben, soviel Steine einem das Schicksal auch in den Weg legte. 
Kurzentschlossen öffnete sie ihren Laptop und dann rasten die Finger über die Tasten.
Gut zwei Stunden später verspürte sie Hunger und Durst. Mit hochroten Wangen ging sie in die Küche, schob sich eine Pizza in den Backofen, deckte den kleinen Küchentisch und schenkte sich ein Glas Rotwein ein.
Zur Feier des Tages, liebe Charlotte!", sagte sie zu sich selbst und lächelte. Wie gut hatte es getan, einmal aufzuschreiben, was ihr durch den Kopf ging.
Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Es war kurz vor ihrem zehnten Geburtstag, als ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen. Ein Betrunkener war   frontal in ihren Wagen gefahren. Beide waren auf der Stelle tot.
Mitten aus dem Unterricht wurde sie zur Direktorin gerufen. Eine nette Polizistin erwartete sie dort und begleitete sie auch nach Hause. Sie blieb bei ihr, bis die Schwester ihrer Mutter kam.
Wenige Tage später die Beerdigung und die vielen schwarz gekleideten Verwandten, von denen sie nur wenige kannte.
Sie schwatzten durcheinander, lärmten und lachten. Niemand kümmerte sich um das einsame Kind, das still in der Ecke saß und mit traurigen Augen das Treiben ringsum verfolgte.
Ein Satz hatte sich in Charlottes Gedächtnis eingeprägt. Onkel Alfons hatte ihn gesagt:
Was machen wir mit dem Balg?"
Ein Blag war sie also gewesen, eines, das niemand gebrauchen konnte. Das hatte weh getan und noch heute schmerzte der Gedanke daran.
Ich nehme sie mit!", hatte Onkel Alfons dann gesagt. „Sie kann auf dem Hof helfen, wenn sie nicht zwei linke Hände hat!"
Das war eine schlimme Zeit für das Mädchen, früh morgens raus und in den Stall, dann Frühstück machen für alle und dann schnell in die Schule.  Dort war sie schon so müde, dass sie dem Unterricht schlecht folgen konnte. Kaum hatte sie zu Mittag gegessen, musste sie schon aufs Feld. Abends fiel sie müde in das Bett in dem kleinen Kämmerchen oben unterm Dach. 
Als ihre Kräfte deutlich nachgelassen hatten, schickte der Onkel sie weiter. Nähe hatte sie nicht aufbauen können, also tat es ihr auch nicht weh. Schlimmer konnte es nicht werden. Nun kam sie also zu einer Schwester ihrer Mutter. Zunächst fühlte es sich so an, als würde nun ein neues Leben für sie beginnen, aber Tante Monika war nicht so freundlich, wie es auf den ersten Blick schien. Sie ließ Charlotte deutlich spüren, dass sie nur ein Klotz am Bein war, lästig und unerwünscht. Genommen hatte sie das Kind nur, weil Alfons sie unter Druck gesetzt hatte.
Nimm sie, du kriegst von mir jeden Monat etwas Geld zum Unterhalt dazu und ich sorge dafür, dass auch die bucklige Verwandtschaft sich beteiligt!" 
Charlotte wurde immer trauriger, sie fühlte, dass sie überall unerwünscht war und sie weinte sich oft in den Schlaf. 
Mama, Papa, nehmt mich doch zu euch, mich mag doch hier keiner haben. Bitte helft mir!", flüsterte sie am Abend voller Verzweiflung. Als hätten ihre Eltern sie gehört, klingelte es ein paar Tage später. Eine kleine, vergnügt lachende, ältere Frau stand vor der Tür.
Hallo, du bist bestimmt Charlotte, die Tochter meiner Nichte Angelika."
Monika kam aus der Küche, um nachzusehen, wer gekommen war.
Tante Agnes!" rief sie überrascht.
Schüchtern trat Charlotte einen Schritt zurück. Tante Monika mochte es nicht, wenn Kinder sich in den Vordergrund stellten. Das hatte sie oft genug gesagt in den letzten Tagen.
Komm doch erstmal herein!", bat Tante Monika ihre Tante.
Die reichte zuerst Charlotte die Hand.
Kind, du bist aber groß geworden!", sagte sie und strich dem Mädchen liebevoll über den Kopf.
Hast du eine Tasse Kaffee für mich, Monika?", fragte sie dann und schaute sich im Flur um. 
Ja, komm nur herein, und du …“, sie zeigte auf Charlotte, „koch Kaffee und deck den Tisch!"
Agnes runzelte die Stirn bei diesem unfreundlichen Ton und schenkte Charlotte ein liebevolles Lächeln. 
Monika aber wandte sich mit freundlichen Lächeln der Tante zu, schließlich war sie sowas wie eine Erbtante.
Was führt dich zu mir Tante Agnes?"
Diese winkt ab. „Lass uns erst Kaffee trinken."
Charlotte bemerkte die Anspannung zwischen den beiden Frauen. Sie verhielt sich still wie ein kleines Mäuschen, huschte lautlos in der Küche umher, kochte Kaffee und stellte Gebäck auf den Tisch. Tante Agnes bemerkte, dass das Kind nur für zwei Personen deckte.
Wo ist denn dein Gedeck, Kleine?", fragte sie und sah, dass Charlotte Tränen in die Augen stiegen.
Erwachsene sollten unter sich sein!", sagte Monika streng.
Nein, nein kommt gar nicht in Frage. Hol dir ein Gedeck, Charlotte, und setze dich zu uns. Da es dich betrifft kannst du auch gleich mithören."
Agnes wartete bis auch Charlotte saß, dann wandte sie sich an Monika.
Alfons hat mich angeschrieben, damit ich mich am Unterhalt von Charlotte beteilige. Ich weiß, dass Alfons das Mädchen nur aufgenommen hat, um eine billige Arbeitskraft zu haben. Als sie nicht mehr konnte, hat er sie an dich abgeschoben. Du aber hast das Mädchen auch nur zu dir genommen wegen des Zuschusses. Da du ja arbeitslos bist und auch bisher noch nicht versucht hast Arbeit zu finden, kam dir das sehr gelegen."
Monika fuhr empört auf, doch ihre Tante winkte nur ab.
Lass, ich kenne meine Pappenheimer. Darum will ich euch die Sorge um das Kind abnehmen. Ich werde Charlotte zu mir nehmen." 
Giftig fuhr ihr Monika ins Wort. „Da hat das Kind wohl auch ein Wörtchen mitzureden! Charlotte, sag Tante Agnes sofort, dass du es gut hast bei mir!"
Schüchtern schlug Charlotte die Augen nieder. Nein, sie hatte es nicht gut. Sie bekam zu essen und zu trinken, aber das war auch schon alles. Niemanden zum Reden hatte sie und wenn sie es doch einmal versucht hatte, Tante Monika ihr Herz auszuschütten, so hatte diese nur gesagt:
Jammer nicht, davon wird es auch nicht besser!"
Was aber war, wenn Tante Agnes gar nicht so freundlich war, wie es jetzt schien? Würde sie vom Regen in die Traufe kommen? 
Vorsichtig musterte sie die Tante und sah in die freundlichen Augen und sie fühlte, für diese liebe alte Dame würde sie kein Klotz am Bein sein. 
Mit einem Blick auf Tante Monika, flüsterte sie:
Tante Agnes ich würde gerne mit dir mitkommen."
Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit", kreischte Monika und warf Charlotte einen bitterbösen Blick zu.
Tante Agnes ignorierte die Nichte.
Charlotte, pack ein, was dir gehört, wir können sofort aufbrechen! Monika, ruf mir ein Taxi, wir fahren mit dem Zug nach Hause!" Sie öffnete ihre Handtasche und legte einen Geldschein auf den Tisch.
Hier, das ist für dich zum Trost, dass die monatlichen Zuwendungen nun ausbleiben. Und keine Sorge, ich will keinen Pfennig von euch haben. Ihr seid... ihr seid... ach egal. Nicht einmal ein Schimpfwort lasse ich für dich da!" 
So kam Charlotte zu Tante Agnes und nie musste sie dieses bereuen. Sie hatte nach dem Tod der Eltern Liebe und eine Heimat gefunden. 


Charlotte lächelte bei dem Gedanken an Tante Agnes. Sie hob ihr Weinglas erneut und prostete der Tante zu: "Wo auch immer du jetzt bist, liebe Tante, ich danke dir von Herzen, dass du für mich da warst!"
Morgen würde sie weiterschreiben, ganz so, wie Tante Agnes es sich wohl wünschte, aber es würden fröhliche Geschichten werden, so fröhlich, wie das Leben mit ihr.

© Regina Meier zu Verl & Lore Platz