Auf
Umwegen zum Glück
Charlotte
schloss das Buch und legte die Lesebrille zur Seite. Ach, was war das
wieder für eine herrliche Geschichte gewesen. Gedankenverloren sah
sie aus dem Fenster. Es gefiel ihr, immer wenn eine Geschichte zu
Ende war, diese noch weiterzuspinnen.
Das
Mädchen, um das es in diesem Buch ging, hatte seine Eltern verloren
und eine schlimme Zeit durchgemacht. Dann war sie aber bei einer
Tante gelandet, die sich rührend um sie gekümmert hatte und
irgendwann auch Zugang zu ihrem Inneren gefunden hatte.
Charlotte
lächelte, vielleicht gefiel ihr das Buch auch deshalb so gut, weil
es Parallelen zu ihrem eigenen Leben aufwies. Auch sie hatte früh
ihre Eltern verloren und wurde in der Verwandtschaft
herumgereicht, weil niemand sie haben wollte. Bis sie zu Tante Agnes
kam.
Damals
hatte Charlotte das Vertrauen und die Hoffnung verloren. War sie doch
gerade erst zehn Jahre alt, als die Eltern starben. Das tat so weh
und sie hatte niemanden, der ihre Trauer ernst genommen hatte. Erst
Tante Agnes hatte mir ihr darüber gesprochen, behutsam hatte sie
sich vorgetastet und es hatte gar nicht lange gedauert, bis Charlotte
erkannt hatte, dass Tante Agnes es gut mit ihr meinte.
Und
dann begann eine schöne Zeit für das Mädchen. Sie lächelte bei
dem Gedanken an die kleine quirlige Person, die voller Energie war
und mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielt und deshalb bei der
Verwandtschaft nicht so beliebt war.
Von
Tante Agnes hatte Charlotte auch die Liebe zu den Büchern bekommen.
Jeden Abend saßen sie gemütlich beisammen und lasen. Anschließend
tauschten sie ihre Gedanken zu den Geschichten aus.
Das
waren die schönsten Stunden für Charlotte. Sie lernte nicht nur die
Bücher zu lieben, sondern auch viele Lebensweisheiten, die Tante
Agnes, ohne dass Charlotte es bemerkte, in die Seele des jungen
Mädchens pflanzte.
Während
ihrer Jahre als Lehrerin hatte Charlotte vieles davon an die Kinder
weitergeben können. Jetzt war sie im Ruhestand und da sie nie
geheiratet hatte, fühlte sie sich manchmal einsam. Gern hätte sie
noch eine Aufgabe gehabt, bei der sie Kontakt zu anderen Menschen
gehabt hätte.
Plötzlich
war ihr, als höre sie die Stimme ihrer Tante.
„Kind,
du musst selbst dafür sorgen, dass du eine Aufgabe hast. Geh in die
Schulen oder Altenheime. Schreib deine Geschichten auf und erzähl
sie weiter!"
Verwirrt
wischte sich Charlotte über die Augen. Fing sie nun an zu
fantasieren und hörte gar Stimmen?
Doch
je länger sie nachdachte, umso mehr freundete sie sich mit dem
Gedanken an. Ein bewegtes Leben lag hinter ihr und dies
aufzuschreiben würde ihr nicht nur helfen die Vergangenheit zu
bewältigen, sie könnte auch anderen damit helfen mit dem Wissen
niemals aufzugeben, soviel Steine einem das Schicksal auch in den Weg
legte.
Kurzentschlossen
öffnete sie ihren Laptop und dann rasten die Finger über die
Tasten.
Gut
zwei Stunden später verspürte sie Hunger und Durst. Mit hochroten
Wangen ging sie in die Küche, schob sich eine Pizza in den Backofen,
deckte den kleinen Küchentisch und schenkte sich ein Glas Rotwein
ein.
„Zur
Feier des Tages, liebe Charlotte!", sagte sie zu sich selbst und
lächelte. Wie gut hatte es getan, einmal aufzuschreiben, was ihr
durch den Kopf ging.
Ihre
Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Es war kurz vor ihrem
zehnten Geburtstag, als ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums
Leben kamen. Ein Betrunkener war frontal in ihren Wagen
gefahren. Beide waren auf der Stelle tot.
Mitten
aus dem Unterricht wurde sie zur Direktorin gerufen. Eine nette
Polizistin erwartete sie dort und begleitete sie auch nach Hause. Sie
blieb bei ihr, bis die Schwester ihrer Mutter kam.
Wenige
Tage später die Beerdigung und die vielen schwarz gekleideten
Verwandten, von denen sie nur wenige kannte.
Sie
schwatzten durcheinander, lärmten und lachten. Niemand kümmerte
sich um das einsame Kind, das still in der Ecke saß und mit
traurigen Augen das Treiben ringsum verfolgte.
Ein
Satz hatte sich in Charlottes Gedächtnis eingeprägt. Onkel Alfons
hatte ihn gesagt:
„Was
machen wir mit dem Balg?"
Ein
Blag war sie also gewesen, eines, das niemand gebrauchen konnte. Das
hatte weh getan und noch heute schmerzte der Gedanke daran.
„Ich
nehme sie mit!", hatte Onkel Alfons dann gesagt. „Sie kann auf
dem Hof helfen, wenn sie nicht zwei linke Hände hat!"
Das
war eine schlimme Zeit für das Mädchen, früh morgens raus und in
den Stall, dann Frühstück machen für alle und dann schnell in die
Schule. Dort war sie schon so müde, dass sie dem Unterricht
schlecht folgen konnte. Kaum hatte sie zu Mittag gegessen, musste sie
schon aufs Feld. Abends fiel sie müde in das Bett in dem kleinen
Kämmerchen oben unterm Dach.
Als
ihre Kräfte deutlich nachgelassen hatten, schickte der Onkel sie
weiter. Nähe hatte sie nicht aufbauen können, also tat es ihr auch
nicht weh. Schlimmer konnte es nicht werden. Nun kam sie also zu
einer Schwester ihrer Mutter. Zunächst fühlte es sich so an, als
würde nun ein neues Leben für sie beginnen, aber Tante Monika war
nicht so freundlich, wie es auf den ersten Blick schien. Sie ließ
Charlotte deutlich spüren, dass sie nur ein Klotz am Bein war,
lästig und unerwünscht. Genommen hatte sie das Kind nur, weil
Alfons sie unter Druck gesetzt hatte.
„Nimm
sie, du kriegst von mir jeden Monat etwas Geld zum Unterhalt dazu und
ich sorge dafür, dass auch die bucklige Verwandtschaft sich
beteiligt!"
Charlotte
wurde immer trauriger, sie fühlte, dass sie überall unerwünscht
war und sie weinte sich oft in den Schlaf.
„Mama,
Papa, nehmt mich doch zu euch, mich mag doch hier keiner haben. Bitte
helft mir!", flüsterte sie am Abend voller Verzweiflung. Als
hätten ihre Eltern sie gehört, klingelte es ein paar Tage später.
Eine kleine, vergnügt lachende, ältere Frau stand vor der Tür.
„Hallo,
du bist bestimmt Charlotte, die Tochter meiner Nichte Angelika."
Monika
kam aus der Küche, um nachzusehen, wer gekommen war.
„Tante
Agnes!" rief sie überrascht.
Schüchtern
trat Charlotte einen Schritt zurück. Tante Monika mochte es nicht,
wenn Kinder sich in den Vordergrund stellten. Das hatte sie oft genug
gesagt in den letzten Tagen.
„Komm
doch erstmal herein!", bat Tante Monika ihre Tante.
Die
reichte zuerst Charlotte die Hand.
„Kind,
du bist aber groß geworden!", sagte sie und strich dem Mädchen
liebevoll über den Kopf.
„Hast
du eine Tasse Kaffee für mich, Monika?", fragte sie dann und
schaute sich im Flur um.
„Ja,
komm nur herein, und du …“, sie zeigte auf Charlotte, „koch
Kaffee und deck den Tisch!"
Agnes
runzelte die Stirn bei diesem unfreundlichen Ton und schenkte
Charlotte ein liebevolles Lächeln.
Monika
aber wandte sich mit freundlichen Lächeln der Tante zu, schließlich
war sie sowas wie eine Erbtante.
„Was
führt dich zu mir Tante Agnes?"
Diese
winkt ab. „Lass uns erst Kaffee trinken."
Charlotte
bemerkte die Anspannung zwischen den beiden Frauen. Sie verhielt sich
still wie ein kleines Mäuschen, huschte lautlos in der Küche umher,
kochte Kaffee und stellte Gebäck auf den Tisch. Tante Agnes
bemerkte, dass das Kind nur für zwei Personen deckte.
„Wo
ist denn dein Gedeck, Kleine?", fragte sie und sah, dass
Charlotte Tränen in die Augen stiegen.
„Erwachsene
sollten unter sich sein!", sagte Monika streng.
„Nein,
nein kommt gar nicht in Frage. Hol dir ein Gedeck, Charlotte, und
setze dich zu uns. Da es dich betrifft kannst du auch gleich
mithören."
Agnes wartete
bis auch Charlotte saß, dann wandte sie sich an Monika.
„Alfons
hat mich angeschrieben, damit ich mich am Unterhalt von Charlotte
beteilige. Ich weiß, dass Alfons das Mädchen nur aufgenommen hat,
um eine billige Arbeitskraft zu haben. Als sie nicht mehr konnte, hat
er sie an dich abgeschoben. Du aber hast das Mädchen auch nur zu dir
genommen wegen des Zuschusses. Da du ja arbeitslos bist und auch
bisher noch nicht versucht hast Arbeit zu finden, kam dir das sehr
gelegen."
Monika
fuhr empört auf, doch ihre Tante winkte nur ab.
„Lass,
ich kenne meine Pappenheimer. Darum will ich euch die Sorge um das
Kind abnehmen. Ich werde Charlotte zu mir nehmen."
Giftig
fuhr ihr Monika ins Wort. „Da hat das Kind wohl auch ein Wörtchen
mitzureden! Charlotte, sag Tante Agnes sofort, dass du es gut hast
bei mir!"
Schüchtern
schlug Charlotte die Augen nieder. Nein, sie hatte es nicht gut. Sie
bekam zu essen und zu trinken, aber das war auch schon alles.
Niemanden zum Reden hatte sie und wenn sie es doch einmal versucht
hatte, Tante Monika ihr Herz auszuschütten, so hatte diese nur
gesagt:
„Jammer
nicht, davon wird es auch nicht besser!"
Was
aber war, wenn Tante Agnes gar nicht so freundlich war, wie es
jetzt schien? Würde sie vom Regen in die Traufe kommen?
Vorsichtig
musterte sie die Tante und sah in die freundlichen Augen und sie
fühlte, für diese liebe alte Dame würde sie kein Klotz am Bein
sein.
Mit
einem Blick auf Tante Monika, flüsterte sie:
„Tante
Agnes ich würde gerne mit dir mitkommen."
„Das
hat man nun von seiner Gutmütigkeit", kreischte Monika und warf
Charlotte einen bitterbösen Blick zu.
Tante
Agnes ignorierte die Nichte.
„Charlotte,
pack ein, was dir gehört, wir können sofort aufbrechen! Monika, ruf
mir ein Taxi, wir fahren mit dem Zug nach Hause!" Sie öffnete
ihre Handtasche und legte einen Geldschein auf den Tisch.
„Hier,
das ist für dich zum Trost, dass die monatlichen Zuwendungen nun
ausbleiben. Und keine Sorge, ich will keinen Pfennig von euch haben.
Ihr seid... ihr seid... ach egal. Nicht einmal ein Schimpfwort lasse
ich für dich da!"
So
kam Charlotte zu Tante Agnes und nie musste sie dieses bereuen. Sie
hatte nach dem Tod der Eltern Liebe und eine Heimat gefunden.
Charlotte
lächelte bei dem Gedanken an Tante Agnes. Sie hob ihr Weinglas
erneut und prostete der Tante zu: "Wo auch immer du jetzt bist,
liebe Tante, ich danke dir von Herzen, dass du für mich da warst!"
Morgen
würde sie weiterschreiben, ganz so, wie Tante Agnes es sich wohl
wünschte, aber es würden fröhliche Geschichten werden, so
fröhlich, wie das Leben mit ihr.
©
Regina Meier zu Verl & Lore Platz